Apokalypse der Körper

Berlin-Premiere der Koproduktion von Ballet Preljocaj und Bolschoi Ballett im Rahmen der SpielzeitEuropa

Berlin, 03/12/2010

Die diesjährige Eröffnung der 235. Spielzeit des Moskauer Bolschoi Theaters präsentierte im Frankreich-Russland-Jahr 2010 erstmals eine Tanzschöpfung des Franzosen Angelin Preljocaj (Uraufführung 14. September 2010). Er erarbeitete mit elf Tänzern seiner Kompanie und zehn Tänzern des Bolschoi Balletts das für beide Seiten höchst ungewohnte und herausfordernde Tanzprojekt „And then, one thousand years of peace“ als Paraphrase über die Apokalypse. Diese Uraufführungsproduktion des überraschend homogen agierenden Ensembles (Premiere in Anwesenheit des Choreografen) ist dreimal in Berlin zu erleben.

Hundert lange Minuten gerät die Welt mehr und mehr aus den Fugen. Die barfuß getanzte Apokalypse (griech. Enthüllung/Offenbarung) zeigt im rasanten Wechsel von meist unisono choreografierten Ensembleszenen und solistischen Bildern das Anwachsen kollektiver und individueller Deformierungen. Es geht hier nicht um die Illustration der prophetischen Visionen des Johannes von der finalen Katastrophe. Preljocaj und sein Team diagnostizieren den schleichenden Prozess des Rückfalls in die Barbarei. Techno-Magier Laurent Garnier entwickelte eine energetisch fesselnde Soundtextur, die den Bewegungsbildern expressive und meditative Spannung verleiht. Paare verletzen einander, Männer robben wie Würmer, mutieren zu Tieren, zwei finden zu einander im Kuss. Menschen marschieren mit Büchern in Mund und Händen oder blättern gebetsmühlenartig als einsame Denker. Sexblondinen winden sich vor Metallwänden, schwarze Hexen lachen mit Skeletten. Ein Mann mit aufgerissenem Oberhemd springt schreiend durch Menschen, die an ihren Büro-Stühlen festkleben. Wisperndes Stimmengemurmel begleitet den trancehaften Auftritt von zwei Gruppen, die, gesichtslos in bunte Nationalflaggen gehüllt, einander belauern oder bewusst in Sexarrangements posieren. Zwei weiße Engelfrauen tanzen zu Beethovens „Mondscheinsonate“ ein Duett im Gleichklang, dass jedoch keinerlei Bezug herstellt. Später tropft Blut aus Frauenmündern auf Silbertabletts.

Innerlich berührt, aufgewühlt, angeregt wird man als Zuschauer nicht. Viele Bilder bleiben unscharf, künstlich, die Bewegungen beliebig. Das liegt auch an den ständig wechselnden Kostümen des russischen Designers Igor Shapurin, die primär äußerliche Reize (für die Fotografen) bedienen. Wenn Preljocaj allerdings zwei Männer expressiv über die Szene jagt, während plötzlich schwere Eisenketten von oben neben ihnen niederdonnern, ihre Hände zu flattern beginnen und sie dennoch um ihr Leben fallen, drehen und springen, gelingen bedrückende Momente der allgegenwärtigen Existenzangst.

Frustrierend der Tanz einer Sexdiva, die einem Mann mit verbundenen Augen als körperliche Hülle der Befriedigung dient. Das überraschend klare Schlussbild ist ein Reinigungsritual, für das der indische Bühnenbildner Subodh Gupta vor den Metallwänden horizontal eine Reihe Waschbecken installiert hat. Alle Tänzerinnen und Tänzer waschen eine endlose Zahl verschiedener Nationalflaggen, schleudern sie gegen die Wände und breiten sie nass auf den Boden aus. Ratlos blicken Protagonisten und Zuschauer auf das Fahnenfeld (lt. Preljocaj Metapher für Krieg führende Staaten), auf dem sich plötzlich zwei lebende Lämmer blökend tummeln und nicht einfangen lassen.

Haus der Berliner Festspiele 2. – 4. 12. 2010

Kommentare

Noch keine Beiträge