Wachablösung nach einem halben Jahrhundert

Die Gründergeneration gibt die Leitung der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft ab

oe
Stuttgart, 08/07/2009

Ein bisschen Geschichtsbewusstsein erscheint angebracht! Nicholas Beriozoff, gestorben 1996 neunzigjährig, mag nicht der Gründer dessen gewesen sein, was heute als Stuttgarter Ballet ein Weltbegriff ist, wohl aber war er dessen Pionier – bereits 1958 als einer der Gründerväter der Noverre-Gesellschaft, Freunde des Stuttgarter Balletts, zusammen mit Fritz Höver. Die hatte einen Vorgänger, den englischen Ballett Club von Marie Rambert, der zum Forum für junge Choreografen wurde, unter ihnen als berühmteste Frederick Ashton, Antony Tudor und ein gewisser John Cranko. Den Londoner Club gibt es schon lange nicht mehr – die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft aber blüht und gedeiht nun schon ein halbes Jahrhundert und ist zum Vorbild für viele choreografische Nachwuchsforen hierzulande und im Ausland geworden. Damals, bei ihrer Gründung, war Rainer Woihsyk noch ein Teenager, der dann von Höver die Leitung übernahm und sich jetzt verabschiedet hat, damit ein junges Team um Sonia Santiago, Lior Lev und Marco Goecke seine Arbeit fortführen kann.

Es wurde ein rauschendes Finale mit acht neuen Stücken von Juniorchoreografen aus Stuttgart (sowohl von der Opernkompanie wie von Eric Gauthiers Off-Truppe), aus München, Rotterdam und Berlin, und wenn es auch keinen neuen Cranko zu entdecken gab, so erwiesen sich ihre Arbeiten doch als grundsolide Gesellenstücke, wie sie in solcher Fülle solide keins der konkurrierenden Unternehmen in Berlin, Hamburg oder München zu bieten hat, und auch nicht Wien oder Zürich. Dabei erwies sich Joseph Morrissey mit seinem „In Passing“ für zwei Solopaare als der gediegene Klassiker mit dem Signum des Bayerischen Staatsballetts, das ja wie keine andere deutsche Kompanie der St. Petersburger Tradition verpflichtet ist. Da gab sich Mikhail Soloviev vom Stuttgarter Ballett schon sehr viel pfiffiger, der zunächst in seinem Duo für David Moore und Oihane Herrero seinen mexikanischen Gaucho-Typ der Phantom-Geliebten mit der Luftgitarre huldigte, um sich dann, offenbar ermutigt durch ein paar Tequilas, zu einer Virtuositätsshow seiner Verführungskünste hinreißen ließ. Wonach sich Lucas Jervies aus Rotterdam uns zu einer unendlich abgespulten Tonschleife weiszumachen versuchte, was angeblich seine fünf Tänzer in der Luft sahen, aus der dann schließlich die Platten herabgesegelt kamen, vielleicht ja für einen Platten-Hausbau in Mondrian-Manier.

Höhepunkt des ersten Programmteils war dann unmittelbar vor der Pause ein Duo von Evan McKie für Alicia Amatriain und Jason Reilly, bei der sie kaum je die Erde berührte und sich um seinen Körper wand, wogegen die Verschlingungen von Laokoon sich wie ein Kinderspiel ausnahmen. Wenn die Gewerkschaft der Transportarbeiter demnächst einen Werbespot fürs Fernsehen drehen will, sollte sie unbedingt McKie als Regisseur engagieren. Weiter ging‘s mit Armando Braswells „Duet for Six“, das sich zunächst als Pas de quatre für zwei Paare plus zwei Einzeltänzer präsentierte, ehe sich alle sechs zum farbfrohen Finale vereinten. Dann war wieder das Stuttgarter Ballett an der Reihe, mit Stefan Stewarts „Bloodstone or The Sign-Painter‘s Button“, einem Pas de trois für drei Troglodyten, die wild ihre Haare flattern ließen und sodann zu einer Art Rütli-Schwur antraten.

Als Gast aus Berlin führte Raimondo Rebeck Iana Salenko und Marian Walter vom Staatsballett in einem Pas de deux vor, der sich aus einer zeitlupenartigen Studie wie auf einem Laufband den Raum eroberte und dort seine hohe Kunst des preußischen Neoklassizismus à la Schlüter präsentierte. Schließlich bewies Demis Volpi, sicher der nächste Stuttgarter Anwärter auf den Anschluss an die Spuck-Goecke-Lee-Nachfolge, dass er inzwischen auch mit einem größeren Ensemble, jenseits der Verzierung von Opernproduktionen, umgehen und immerhin acht Tänzer seine Botschaft „from me to you“ übermitteln ließ. Sie kam sichtlich aus seinem übervollen Herzen: ein Jungchoreograf, dem die Enchainements nur so aus dem Ärmel zu purzeln scheinen. Kein Mangel an Nachwuchs also bei diesem Abschiedsabend von Rainer Woihsyk, sondern das Garantieversprechen, dass Stuttgart auch unter seinen Nachfolgern sein Renommee als Kreativcenter des Balletts zu behaupten willens ist.

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