Verkehrte Welt

„Die sieben Todsünden – Fürchtet Euch nicht“ begeistert bei der spielzeit´europa

Berlin, 12/12/2009

Im Januar 2007 stand Pina Bausch inmitten ihres gefeierten Ensembles anlässlich des Gastspiels „Rough Cut“ letztmalig auf der Bühne im Berliner Haus der Festspiele. Jetzt sind die Wuppertaler wieder in Berlin, ohne Bausch, doch mit einem ihrer wichtigsten Tanzstücke. So bleibt sie lebendig, ist sie gleichsam anwesend.

Pina Bauschs Tanzabend „Die sieben Todsünden“, uraufgeführt 1976, hat Theatergeschichte geschrieben. Der legendäre Brecht-Weill-Abend wurde 2008 am Tanztheater Wuppertal wiederaufgenommen. Nun erlebten die Berliner eine der wegweisenden frühen Produktionen, in der mit Josephine Ann Endicott und Mechthild Großmann inmitten eines hochklassig agierenden Ensembles zwei der langjährigen Wegbegleiterinnen Pina Bauschs mitwirken, die auch in der Uraufführung in den Hauptrollen zu erleben waren.

Dieser Tanzabend ist mehr als Traditionspflege oder gar museale Rückwärtsgewandtheit. Er spiegelt den Grundimpuls der Tanztheaterarbeit der Wuppertaler: Menschlich eingreifendes Tanztheater, das Fragen stellt an das Menschsein in einer aus den Fugen geratenen Welt. In Zeiten unserer globalen Finanz-, Wirtschafts- und Umweltkrise spürt der Betrachter die Radikalität der Theaterarbeit von Bausch und ihrem Ensemble neu. Was vor über dreißig Jahren für Irritation und Tumulte sorgte, verfügt mit dem Wissen über den künstlerischen Lebensweg der Kompanie und die unterschiedlichsten Zeiterfahrungen der Zuschauer über eine außerordentliche thematische Brisanz und artifizielle Kraft. Brecht/Weills episches „Die sieben Todsünden“ wurde 1933 in Paris uraufgeführt. Ein ballet chanté für Sopran (Anna I), Männerquartett (Familie), Tänzerin (Anna II) und Orchester. „Die sieben Todsünden“ (der Kleinbürger) wurde 1933 als letzte gemeinsame Arbeit in Paris uraufgeführt. Eine gesungene, gespielte und getanzte Satire auf die Verlogenheit der Welt.

Bauschs Inszenierung folgt den bewussten Gegensätzen in Musik und Text, die irritieren und überraschen. Ihre Szenenfolge konzentriert sich mit sparsamsten Mitteln auf die Reise der ungleichen Schwestern Anna I (Annette Jahns) und Anna II (Ann Endicot) nach dem Glück. Beide durchwandern sieben Großstädte Amerikas (grauer Bürgersteig und Straßenbelag mit Gulli, Bühne Rolf Borzig); sieben Jahre malochen sie für ein Häuschen in Louisiana. Ein demonstrativer Scheinwerfer verfolgt Annas Abstieg, sie wird exemplarisch beobachtet. Anfangs neugieriges Mädchen im Sommerkleid, gerät sie arglos in die schwarze Welt funktionierender Menschen-Roboter, der Fleischbegrabscher, der Erniedrigung, der Doppelmoral. Dessous fliegen auf die Szene, Girls und Transvestiten in Glitzerfummeln bieten Fleisch an. Annas Lachen gefriert zunehmend, sie repetiert trippelnde Schrittchen. Die moralischen Werte verkehren sich durch die Verhältnisse ins Gegenteil. Bauschs Bewegungsmetaphern erhellen Minidramen. Gesang, Text, Tanz, Bühne, Kostüme, Licht, Requisiten, das Nach- und Ineinandergreifen von Einzel-, Duo und Gruppenaktion ermöglicht ein assoziatives Koproduzieren beim Betrachter. Momente höchster Präzision, da ein Mann das Mädchen wie eine Puppe dreimal hochhebt, langsam wippend absetzt und nach dem Koitus mit dem Bandmaß Annas Körper drangsaliert „Sie wollen kein Nilpferd in Philadelphia“. Anna wird zur Ware zugerichtet. Anna I kennt die Spielregeln (Sopranistin Annette Jahns im engen schwarzen Kostüm mit teils messerscharf geifernder Stimme und rabiatem Gestus), sie trimmt die Schwester und macht indes nichts, von dem, „was für die andere gut ist“. So werden die privaten und gesellschaftlichen Wahrheiten als Lügen entlarvt. Die lange Reihe schwarzer Gestalten rammt stampfend auf Anna zu, sie gerät zwischen die Reihen der unaufhaltsam nach vorn strebenden Menge, wird zerrieben (wie die Infantin bei Kurt Jooss). Jetzt haben wir´s geschafft, resümiert Anna I, während Anna II als psychisches und physisches Menschenwrack zitternd vor ihr steht. The Capital Dance Orchestra (Musikalische Leitung: Jan Michael Horstmann) sitzt auch im zweiten Teil im hinteren Teil der Bühne, bleibt kompetenter Partner der Szene. Unter Verwendung von Songs aus „Die Dreigroschenoper“, „Happy End“, „Das Berliner Requiem“, „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ und der „Kleinen Dreigroschenmusik“ choreografierte und inszenierte Pina Bausch im zweiten Teil eine schwungvolle, bitterböse Revue aus Tanz, Gesang, Spiel mit ständig wechselnden Perspektiven, Stimmungen, Brüchen. Zentral bleiben die individuelle Glückssuche und das Un-Glück, das durch den anderen Menschen entsteht. „Fürchtet Euch nicht“ – eine künstlerische Wahlverwandtschaft von Brecht-Weill-Bausch.

Girls und Boys (en travesti) kokettieren mit dem Publikum. Josephine Ann Endicott gibt einem Mann in der ersten Reihe die Hand „Nice to meet you. Ich war vor 31 Jahren auch hier“, dann treibt sie die bunte Revuetruppe schmissig in Dreieck-Formation auf die Zuschauer zu. Überraschend verengt sich der Fokus und die gespielte Spannung ruht auf einem Mädchen (Ditta Miranda Jasifi faszinierend in ihrer Verletzbarkeit und Stärke), das sich schüchtern in einer Spiegelbox dreht. Sie verfolgen wir (wie eine Nadel im Heuhaufen) auf ihrer Suche nach Zuneigung und Liebe sporadisch durch mehr als 20 Szenen. Ein Flötensolo begleitet ihren Tanz mit schwarzen Schuhen (imaginärem Mann). Dann legt sich einer im Anzug und Handschuhen mit sanftem Singsang „Fürchte dich nicht“ neben sie. Das seltsame Paar wird in den großen Gruppen-Tableauxs wie ein Kontrapunkt auftauchen: anfangs versunken im Walzer, dann plötzlich verändert durch winzige zweifelhafte Gesten, die das Mädchen ängstigen, später wird sie fliehen wollen vor ihm und seinem weißen Kopfkissen. Vergeblich. Ein neues Mädchen wird seinem „Fürchte dich nicht“-Singsang verfallen.

Das großartige Ensemble brilliert im martialischen Sprechgesang vom „Lied der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“. Bedrohlich marschieren alle in schwarzen Spitzenkleidern, die Worte messerscharf skandierend, frontal auf das Publikum zu. Im allerletzten Moment bricht die Formation auf und repetiert banale Girlreihen, Bewegungen im Schnelldurchlauf. Mechthild Großmann treibt ihre schmachvolle Erinnerung an „Surabaya Jonny“ in wüßte Haarrauferei und hysterische Lachkaskaden. Sie hetzt die Revuetruppe mit dem Gürtel auf den Boden schlagend. Die Großmann ist zum Fürchten in ihrem grünen Fummel, schreiend, schnarrend, mit dreckiger Lache. Ein Lachen der Angst, denn sie weiß – wie die am Boden liegende Frau aus dem Puppendebakel - dass die Musik des Tingel-Tangel angesichts der Pleiten und Konkurse ihren Spaßfaktor eingebüßt hat.

Nazareth Panadero und Josephine Ann Endicott trippeln umwerfend komisch als ältliche Jungfern in schwarzen Spitzenkleidern umher, die trotz kleiner Zerwürfnisse die äußere Form minutiös bewahren. Getoppt wird das Duett vom ´Quartett der Huren-Raubkatzen´, die sich auf teuren Pelzen rekeln und Gift und Galle gegeneinander spucken. Alles ist Lug und Trug und wem das Wasser bis zum Hals steht, der verliert alles. Am Schluss marschiert das zur Hure gemachte Mädchen als Frontfrau der grellbunt geschminkten Deklassierten an der Spitze des aggressiv aufs Publikum zumarschierenden Pulks. Die Welt hat ihre Unschuld verloren. Sie ist zum Fürchten.

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