Ungewohnte Hör- und Seheindrücke

Die Erste Symphonie von Johannes Brahms, choreografiert von Gregor Zöllig

Bielefeld, 22/02/2009

Gregor Zöllig hat gewagt, was nur wenigen im Tanztheaterbereich in den Sinn kommt: die Auseinandersetzung mit einem großformatigen Werk der romantisch-klassischen Musik. Die von ihm gewählte 1. Symphonie c-moll von Johannes Brahms fährt riesige rauschhafte Aufschwünge im 1. und 4. Satz auf, bezaubert mit scheinbar ungetrübten lyrisch-poetischen Farben in den beiden Binnensätzen. Zöllig setzt mit seinen Tänzern dagegen Momente, Kurzszenen, Verdichtungen aus dem Geschehen des Arbeitslebens, vornehmlich aus dem Schlips- und Kragenumfeld. Minidramen, die in größere Zusammenstöße münden, kontrastieren auf teils faszinierende Weise mit dem komplexen Gang der Komposition von Brahms, reiben sich an ihr und erzeugen so eine ungewohnte Seh- und Hörperspektive. Verstärkt wird Zölligs Vorgehen durch die ungewohnt raue, kantige Interpretation des vorzüglichen Orchesters unter der Leitung von Leo Siberski, durch das Brahms‘ Erstling in anderem Licht erscheint.

Überwölbt wird die Bühne von einem offenen Pavillondach, dessen Streben sich wie ein Schirm ausspannen, gestützt von eisernen Pfeilern in Gitterstruktur, zwischen denen halb durchsichtige Stoffbahnen herabhängen: eine kalte Metallwelt. Musiklos ist der Start. Ein Tänzer zieht sich gemächlich um, trällert offenbar, soweit hörbar, Themen aus der Sinfonie vor sich hin. Das nun folgende Motiv aus der quasi eingesprungenen, immer wiederholten II. Parallelposition zieht sich durch das Stück, strukturiert es ein wenig. Dann entwickeln sich Auseinandersetzungen um einen beweglichen Bürokasten, von allen Seiten mit Türen bestückt, in der Mitte der Bühne. Da fliegt einer raus, drängt sich wieder rein, wird erneut rausgeschoben. Papiere werden rausgeworfen, dienen den Tänzern als Objekt, um das sie ihre Körper krümmen. Verdeckte Aggressionen hinter dem Rücken des Partners explodieren zu offenen Angriffen mit Stoßen, Schieben, Zerren. Eine Frau vollführt ein Verzweiflungssolo, in dem sie ihren Körper fast zu zerreißen droht. Eine andere greift sich von den Kollegen Jacketts als Herrschaftssymbol, streift sie sich über. Schuhe eines Oberen werden hin und her geworfen. Zöllig gelingen deutliche Zeichen von Zwangssituationen. Sie kulminieren in einer Manipulatorin, die von oben, vom Dach des Bürokubus‘, die da unten mit herrischen Gesten am Gängelband führt. Oder in einem Antreiber, der eine Gruppe mit penetrantem Fingerschnippsen zur äußersten, synchronen Anstrengung auffordert. Im Gedächtnis haften bleibt auch die durch einen Tänzer manisch beschleunigte Rotation eines Moduls, um das sich das Ensemble in wildem Tanz tummelt: ver-rückte Arbeitswelt. Mit mehreren dieser schildartigen feuerroten Module, mit mittig angeflanschter Querwand, wird etwa eine Wand gebildet, vor der eine Frau ausgegrenzt am Boden sich windet.

Zölligs Konzept, choreografiert in Zusammenarbeit mit seinen Tänzern, geht bis Ende des dritten Satzes soweit auf, dass die Zusammenhänge oder Divergenzen zwischen Tanz und Musik dauernd neue Seh- und Höreindrücke bieten. Zudem verausgabt sich das Ensemble total mit oft beklemmender Intensität. Dann aber, im gewaltigen Finalsatz mit dem weit ausschwingenden Hornmotiv und dem monumentalen Streicherthema, verläppert es sich zu ziellosem Gewusel um und in den roten Modulen. Da bliebe Zöllig und Ensemble genug zu tun, zu einem schlüssigen Ende zu kommen. Sieger bleibt quasi das Orchester, das selbst dem strahlendem C-Dur Schluss eine Spur Skepsis beizumischen versteht.

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