Siamesische Zwillinge als Metapher

Nanine Linnings gelungener Einstand

Osnabrück, 30/11/2009

Siamesische Zwillinge dienen Nanine Linning als Metapher für das menschliche Verlangen, mit einem anderen Menschen völlig zu verschmelzen – ein Herz und eine Seele im selben Körper sein. Abartig, wenig alltagstauglich ist das. Als monströs lehnte das Barockzeitalter derlei Doppelwesen ab – nicht Mensch, nicht Tier. Wesen mit zwei menschlichen Köpfen, vier Armen, vier Beinen – zusammengewachsen an Hals, Rücken oder Hüfte. Aber die niederländische Choreografin, die am Samstag Abend mit „Synthetic Twin“ ihren fulminanten Einstand als neue Tanztheater-Leiterin am Osnabrücker Theater gab, setzt das Phänomen menschlicher Missbildung in unglaublich faszinierende theatrale Bilder und tänzerische Aktionen um. Schwach, farblos sind nur Anfang und Ende. Wenn das Publikum in den Zuschauerraum strömt, hocken die fünf Tänzerinnen und fünf Tänzer der neuen „Dance Company Theater Osnabrück Nanine Linning“ vorn an der Rampe und kneten Teig, hantieren mit Ausstechformen.

Was reichlich infantil wie kindliche Weihnachtsbäckerei wirkt, scheint der Versuch, Wesen aus Fleisch und Blut zu kreieren. In der folgenden Szene taucht aus dem Dunkel eine Horde animalischer Urmenschen auf, wuselt durch- und miteinander, erstarrt urplötzlich zum reglosen Tableau, zur perfekten Camouflage exotischen Urwaldgetiers. Aus ihrer Mitte befreit sich endlich ein Wesen, anders als alle: ein Mensch. Lautlos schleicht sich die Horde davon. Nun beginnt barockes Treiben in betörend fantasiereicher Kostümierung von Iris van Herpen. Drei scheinbar zusammen gewachsene Paare in barockem Pomp rucken und zucken, recken die Hälse, spreizen die Gliedmaßen, umklammern wie Jungtiere den Mutterleib, tollen und balgen sich wie Welpen, lassen sich willenlos wie leblose Puppen vom stärkeren Alter Ego verbiegen und malträtieren. Vier Artisten vollführen plötzlich rasant-raffinierte, ästhetisch atemraubend schöne Kunststücke. Dazu wechseln barocke Koloraturen und tänzerische Instrumentalsätze von Purcell, Gluck, Händel und Co. mit synthetischen Klängen. Diffuse Farbspiele oder wachsende und mutierende menschliche Eizellen zittern und flimmern über den sieben Meter hohen Rundhorizont (Bühne, Video und Licht: Jan Boiten), der schließlich zur kalkweißen Kletterwand wie für moderne Touristen wird: Wie zuvor die Urmenschen hangeln sich nun die Barockmenschen von Haltegriff zu Sprosse in eine neue Zeit, reihen sich schweigend im Halbrund auf, um ein heutiges Liebespaar zu beobachten, das sich schüchtern an einander anzunähern versucht – langweilig finden sie das (wir auch) und gehen weg.

Nanine Linning, die 32-jährige Holländerin aus Amsterdam, ist zwar keine Unbekannte in Deutschland, aber die meisten Osnabrücker Theaterbesucher überraschte sie mit der kraftvollen Theatralik ihres tänzerischen Panoptikums. Wer Vorbilder für diese überbordend figurenreiche Körpersprache und unterhaltsam-poetische Art der Choreografie sucht, mag an Kylián oder Sasha Waltz erinnert sein. Zusammengewürfelt wirkt diese eben erst formierte Truppe keineswegs. Zusammenspiel und Aura kommen perfekt rüber. Grandios abartig, spastisch geriert sich Tommaso Balbo vorn an der Rampe und steigert seine Geschmeidigkeit womöglich noch im Duett mit Mallika Baumann.

Bewundernswert sind auch die drei Siamesischen Paare: neben den sehr akrobatischen Männern die barock-hochgestylten Damen Emilie Assayag und Aymeline Lenay-Ferrandis sowie Viviane Ferehner und Christina Bauer, barfuß und in nachtblauen Fransenkleidchen. Linning kommt keineswegs aus dem Nichts nach Osnabrück als Nachfolgerin des sehr erfolgreichen Marco Santi. Von 2001 bis 2006 war sie Hauschoreografin am Scapino Ballett und gründete dann ihre Compagnie NANINELINNING.NL, mit der sie auch schon deutsche Städte besuchte. Mit drei Produktionen pro Spielzeit steht sie nun dem Theater Osnabrück im Wort. Ihre Erfolgsstücke „Bacon“ und „Dolby“ folgen auf „Synthetic Twin“. Darüber hinaus arbeitet sie weiter mit ihrer Amsterdamer Kompanie. Dieser Spagat könnte problematisch werden, denn eine Identifikation mit der niedersächsischen Stadt dürfte ihr schwer fallen. Dass deutsches Stadttheater ohne die aber auf Dauer nicht funktioniert, zeigen Beispiele wie etwa „MS Schrittmacher“. Martin Stiefermann heuerte vor Jahren in Oldenburg an, blieb aber weiterhin in Berlin. Das führte dazu, dass die meisten Premieren erst mal in Berlin stattfanden, oder die Endfassung dort nach einem Tryout in Oldenburg Premiere hatte. Von Identifikation mit Oldenburg und den Menschen keine Spur. Diese Gefahr besteht in Osnabrück mit Nanine Linning leider auch.

www.theater-osnabrueck.de

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