Lebensmutig auf berstendem Boden

Pina Bauschs neues, noch titelloses Stück holt sich seine Inspirationen in Chile

Wuppertal, 14/06/2009

Seitdem die Stadt Rom – es war Anno 1986 – das Tanztheater Wuppertal zur Produktion eines neuen Stücks einlud und mit ihrer Aura das grandiose „Viktor“ prägte, haben sich Pina Bausch und ihre Tänzer immer mal wieder an fremde Orte begeben, um sich von ihnen inspirieren zu lassen: nach Palermo und Madrid, nach Wien und Lissabon, nach Budapest und Istanbul, Hongkong und Rio de Janeiro, Kalifornien und Indien. Die Inspiration für ihr jüngstes, bei der Premiere wie meistens noch titelloses Stück fand Pina Bausch in Chile. Ein Foto im ansonsten wenig informativen Programmheft zeigt das Ensemble in einer langen Reihe auf einem roten, karstigen Bergrücken; man vermutet sie bei der Erkundung der Atacama, der trockensten Wüste der Welt.

Die Szene im Wuppertaler Opernhaus, auf der das fertige (?) Stück spielt, ist von schwer überbietbarer Simplizität: vor einer schwarzen Rückwand, die nur einmal für die Projektion eines Wasserfalls von einem hellen Vorhang abgelöst wird, ein glatter weißer Boden, der im Verlauf der beiden je 70-minütigen Akte mehrfach aufbricht und dunkle Risse bekommt; die Welt, die Peter Pabst für Bauschs Tänzer errichtet hat, ist gefährdet und abgründig. Doch füllen die Choreografin und ihre 16 Tänzer – neun Frauen, sieben Männer – sie mit beträchtlichem Lebensmut. Die lange, rätselhafte, aus mehreren Motiven gestückelte Eingangssequenz gehört einer Tänzerin im weißen Hängekleidchen: Silvia Faridas Heredia. Sie lässt sich auf alle viere nieder, und wenn sie von einem Partner aufgehoben und umhergetragen wird, bellt sie wie ein Hund. Sie geht auch wie ein Pferd an einer Stange, wird von einem halben Dutzend Männer umhergeschwenkt. Und am Ende eines langen Solos befindet sie sich wieder in der Ausgangsposition: auf allen vieren, wie an den Boden geklammert.

Die erste Hälfte des Stücks gehört weitgehend den Frauen; die Männer haben beinahe nur dienende, unterstützende Funktion (in der ersten Hälfte erlangt nur der große alte Dominique Mercy, der letzte Bausch-Tänzer der ersten Stunde, den die Choreografin aus den Männer-Ensembles lange heraushält, auch dank eines verwirrten Solos ein den Frauen vergleichbares Profil). Marion Cito hat die junge, runderneuerte Frauen-Riege wie gewohnt mit prachtvollen, perfekt sitzenden Abendroben ausgestattet, die Choreografin garantiert jeder ihrer Tänzerinnen mindestens ein großes Solo. Diese Soli bestehen durchweg aus jenen grundsätzlich ähnlichen Schraubenbewegungen, die Bausch schon seit geraumer Zeit präferiert und kontinuierlich weiter entwickelt hat. Gleichwohl zeigt jedes dieser Soli einen ganz eigenen Charakter: mal eher melancholisch und wehmütig, mal wild und ekstatisch. Zwischen die zunächst vor allem weiblichen Solo-Tänze sind kurze Action-Szenen gesetzt, in denen die Männer die Frauen anmachen – oder auch umgekehrt. Doch haben diese Szenen durchweg etwas Spielerisches. Aus den existentiellen Geschlechterkämpfen der frühen Jahre, als Bauschs Menschen an ihrer Liebe zueinander litten und nicht zueinander kommen konnten, sind mit den Jahren reine Showkämpfe geworden: man neckt sich nicht, weil man sich liebt, sondern damit das Publikum etwas zu sehen und zu staunen hat. Da kann es dann schon passieren, dass die Frau dem Mann, der sich ihr nähert, unversehens eine Ohrfeige gibt, um ihn gleich anschließend zu umarmen und zu küssen. Die kleine Japanerin Azusa Seyama führt eine Reihe klassischer Schrittkombinationen vor – und jeder endet, wie mit einem Ausrufezeichen, an der Brust eines Mannes, dem sie jedes Mal einen dicken Schmatz auf den Mund gibt. Auch kann es passieren, dass – so der Beginn des zweiten Teils – die Frauen wie zum Abschied an dem Mann vorbeischlendern, der in der Bühnenmitte auf einem Stuhl thront und jede von ihnen abzuschlecken versucht – wobei er nur bei einer damenhaften Asiatin keinen Erfolg hat.

Ab und an zitiert sich Pina Bausch selbst. Dann wälzt sich eine der Tänzerinnen auf einem mitgebrachten Kissen, oder jemand erzählt eine Anekdote aus seinem – fiktiven? – Leben. Gelegentlich werden die Zuschauer aus der ersten Parkettreihe ins Spiel einbezogen. Man schenkt ihnen eine Banane oder Orange. Die große, den ersten Akt dominierende Clémentine Deluy (im zweiten Teil tritt die kleine, feine Indonesierin Ditta Miranda Jasfi mehr und mehr in den Vordergrund) bittet jemanden um seine Brille, nur, um indigniert festzustellen, dass die Gläser schmutzig sind und geputzt werden müssen. Auch das Rauchen einer Zigarette und das reichliche Wasser-Trinken sind alte Pina-Bausch-Topoi. Doch bekommen sie hier und jetzt, mindestens in der Fantasie des altgedienten Bausch-Connaisseurs einen neuen Sinn. Der Rauch steigt auf wie aus einem jener Vulkane, an denen das langgestreckte Land im Westen des südamerikanischen Kontinents reich ist, und das reichliche Trinken, oft aus unmöglichen Lagen und unter seltsamen Verrenkungen, wird in der trockensten Wüste der Welt zur Überlebens-Notwendigkeit. Zwei, drei Mal erinnert sich Pina Bausch auch an die Erfolgsmuster früherer Tage. Aber sie stellt sie nicht einfach nach, sondern sie variiert sie. Die große Diagonale des „Macbeth“ findet nun im Sitzen statt: eng aneinander gedrängt fahren Männlein und Weiblein einander durch die Haare wie sich lausende Affen. Die an die Rampe vorgeschobenen Reihen aber absolvieren Bauschs Tänzer, in zwei nach Geschlecht sortierten Tranchen, auf dem Bauche liegend: ein hinreißender Moment, fast zu kurz ausgekostet.

Es gibt viele solcher schöner Momente, und so zählt der – einschließlich der Pause fast dreistündige – Abend eindeutig zu den positiven Tanzereignissen der Spielzeit. Doch zu den ganz großen Stücken im Werkverzeichnis der Pina Bausch gehört das neue, möglicherweise noch unfertige Stück nicht. In der lateinamerikanisch geprägten, wenig prägnanten Musikauswahl befremden der eine oder andere amerikanische Schlager und das anonyme Dröhnen des Balanescu-Quartetts, und ein großes Thema oder auch nur einen roten Faden durch die vielen amüsanten Szenen vermag ich zumindest nicht zu finden. Doch als seriöse Unterhaltsamkeit in Krisenzeiten hat Pina Bauschs „Uraufführung 2009“ nicht Ihresgleichen.
 

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