Gemeinsam einsam: Stadt als Bühne, Mensch als Darsteller, Lärm als Kontext

Christine Chu erkundet den öffentlichen Raum und die „stadt.körper“

Stuttgart, 11/09/2009

Der urbane Zeitgeist pulst durch Stuttgart. Schon seit 1860 Börsenplatz, hat die Schwabenmetropole Architekten (und Architektur wie beispielsweise die Weißenhofsiedlung) von Weltrang hervorgebracht. Hier beginnt vor über 100 Jahren der Triumphzug des Automobils, entstehen international geschätzte Flitzer und staatstragende Karossen (jubiläumsverdächtig der Mercedes-Stern, seit 1910 Symbol der Fahrzeuge aus dem Hause Daimler) und last, but not least hat John Cranko Stuttgart eine Ballett-Kompanie von Weltformat geschenkt. Geld, modernes Stadtbild und beschleunigtes Lebensgefühl, beste Voraussetzungen für eine Megacity im 21.Jahrhundert?

Christine Chu, ein Komet am Himmel der freien Tanzszene im Süden, durchleuchtet in ihrer Performance „stadt.körper“ diverse Aspekte von Baukörper und Körperbau, bündelt Energien von Tänzern, Schauspielern, einem Dutzend semiprofessioneller Darsteller und einer Hand voll Techniker, implantiert inszenierte Bewegungssequenzen, teils ganz privater Art, in den Alltag öffentlicher Räume rund ums Kulturzentrum Treffpunkt Rotebühlplatz. Eine angeseilte Kletterpartie an einer Säule im Gebäude. Ein kopfloser Single als Running Gag. Eine aufgedrehte Politesse, die in nüchtern akademischen Worten erklärt, was eine Straße, was eine Ampel ist. Zwei Disputanten am Fuß der Treppe, die den Briefwechsel zur äußerst mühsamen Genehmigung der Performance rekapitulieren. Die knapp zweistündige Exkursion in die Eingeweide der Stadt ist voll von Anspielungen, Überraschungen und Denkanstößen.

Ob Foyer, Tiefgarage oder achtspurige Straßenkreuzung, die Stadt als Bühne, der Lärm als Kontext und die Menschen – Passanten wie Performer – als Darsteller sind ideale Elemente einer Neudefinition des Soziotops, wobei schon eine Designerbank aus rotem Draht auf der Miniinsel in Straßenmitte genügt, um ins Grübeln zu kommen. Was mag der Passantin (eine Rückenfigur wie auf Gemälden von Caspar David Friedrich) beim Anblick des ampelgesteuerten Abendverkehrs durch den Kopf gehen? Oder die Frage: Sind die zwei Polizisten, die gerade ordnungsmächtig eine Tanz-Einlage auf der City-Plaza durchschreiten, Teil der Inszenierung? Schüchtern fragt eine Passantin: „Wie komm ich denn hier zur U-Bahn?“. Eine berechtigte Frage angesichts der Menschenansammlung die, als Nebenwirkung des Kunstgenusses – der Betrachtung einer Choreografie um die Skulptur auf dem Vorplatz – den Weg zur U-Bahn versperrt. „Gehen Sie einfach durch“ ein schlichter Dialog, der Erving Goffmans These „Wir alle spielen Theater“ (1959) bewahrheitet und zu Perspektivenwechseln anregt.

Das Konzept für „stadt.körper“ ist aus der gemeinsamen Recherche mit dem Schauspieler Robert Atzlinger erwachsen. Während Choreografie und künstlerische Leitung in Chus Händen liegt, hat sich Atzlinger um die Dramaturgie gekümmert sowie Texte beigesteuert. Unter anderen den „Ich will Stadt“-Song, in dem der einsame, Gitarre klampfende Barde Hupkonzert, Mietspiegel und Münz-WC besingt und mit Zeilen wie „Ich will deinen Betonmischer als Flirtszene haben“ gegen den urbanen Blues ankämpft. „Witzig und benutzerfreundlich“ kommentiert ein Besucher, der das Stück unbedingt noch einmal anschauen will, weil man bei einem Durchgang längst nicht alles mitbekommt.

www.treffpunkt-rotebuehlplatz.de

Kommentare

Noch keine Beiträge