Ernesta Corvino

Ballettlehrerin für die Cechetti-Methode in New York

Wuppertal, 29/04/2009

Jedes Mal, wenn ich meine sechs Fragen stelle, überlege ich mir: Was würde ich da antworten? Es gibt eine Frage, auf die ich immer dieselbe Antwort habe: Welche Meister haben sie nicht vergessen? Für mich ist es Alfredo Corvino, der leider 2005 im Alter von 89 Jahren von uns gegangen ist. Aber er hatte zwei Töchter, sie tanzen und unterrichten in New York. Eine davon, Ernesta, kommt in regelmäßigen Abständen nach Wuppertal zu Pina Bausch, um wie ihr Vater früher die Kompanie zu unterrichten.

Ernesta ist für vier Wochen wieder da und ich hatte die Gelegenheit, ihr meine sechs Fragen zu stellen und ihrem Training zusehen. Ihr Unterricht ist unkompliziert, aber nicht einfach, ungekünstelt, aber nicht gewöhnlich. An der Stange wird nach jeder Übung gedehnt, Schulter, Rücken, Beinen, alles sehr gepflegt. In der Mitte sind die Übungen einfach aber sehr rhythmisch, so rhythmisch, dass sie schon wieder anspruchsvoll sind. Außerdem sind sie sehr tänzerisch durch die Epaulements, die Richtungen des Kopfes und der Schulter, die in der Cechetti-Methode ganz genau festgelegt sind.

Leidenschaftlich kann Ernesta den richtigen Kopf für die Pirouettes sowohl zeigen als auch erklären. Es ist eindrucksvoll, wie sie dreht und dabei ihren Vater zitiert: „tuning up your turns“. Als ob sie ein Instrument stimmt. Immer wenn die Kompanie von Pina Bausch eine Serie von Vorstellungen hat, die tanztechnisch sehr fordernd sind wie zum Beispiel „Sacre“ oder „Iphigenie“, dann holen sie Ernesta für das Training. Sie entwickelt und pflegt das Erbe ihres Vaters, des Maestro, wie er hier in Wuppertal von den Tänzern respektvoll genannt wird, ganz nach dem Zitat von Gustav Mahler: „Tradition ist nicht die Bewahrung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers“.


Sechs Fragen an die „Lehrer, die uns bewegen“ 

1. Wie und wann sind Sie zum Unterrichten gekommen? 

Ich habe meinen ersten Unterricht mit 16 Jahren als Vertretung in letzter Minute für meinen Vater Alfredo Corvino an der Metropolitan Opera School in New York City gegeben. Ich war seine Assistentin für eine Ballettklasse junger Mädchen, die nur ein Jahr jünger als ich waren. Mein Vater und sein Pianist waren in der Juilliard School aufgehalten worden und meine Mutter, die Rektorin der Schule, sagte zu mir, ich müsste die Klasse übernehmen. Ohne Pianist! Und so stand ich da, keine Erfahrung, keine Vorbereitung, keine Musik und eine Klasse voll Mädchen in meinem Alter! Ich glaube, ich habe 30 Minuten Stange in nur 10 Minuten gegeben, ich war sehr nervös und habe viel zu schnell gezählt. Der Rest des Unterrichts war dann besser. Kurze Zeit danach hat die Metropolitan Opera School geschlossen, und meine Familie hat „The Dance Circle“ im Theaterdistrikt gegründet. Da habe ich noch oft als Vertretung unterrichtet, bis ich mich mit 30 Jahren hauptberuflich dem Unterrichten gewidmet habe. Dennoch habe ich immer weiter trainiert, bin aufgetreten, habe choreografiert und inszeniert. Ich glaube, dass eine Aktivität die anderen ergänzt: das Lehren verbesserte meinen Tanz und meine Bühnenauftritte, das Choreografieren und das Regieführen machten mich zu einer besseren Lehrerin.

2. Welche Meister haben Sie nicht vergessen? Und warum? 

Meine erste Lehrerin, Margaret Craske, war eine Meisterin im Kinderunterrichten; bei ihr habe ich gelernt, bis ich 14 war. Ihr Lehrplan war einfach und klar, mit Betonung auf korrekte Platzierung und Musikalität. Sie war streng in der Disziplin, hatte aber als Engländerin auch einen trockenen britischen Humor. Ich hatte viel Glück, dass ich bei ihr anfangen konnte, sie hat uns den Respekt für die Struktur eines klassischen Ballettunterrichts gelehrt und mir die Liebe zum methodischen Arbeiten beigebracht.
Mein nächster Meister war der, der mich am meisten geprägt hat: mein Vater Alfredo Corvino. Er wusste nicht nur genau, wie der Körper arbeitet, wie er sich dynamisch bewegen kann, wie er Musik hören und sie einfühlsam wieder geben kann, wie er die Qualitäten verschiedenen Bewegungen erkennen kann usw. Er war auch eine Art Zen-Persönlichkeit und konnte wie kein anderer eine ruhige, nicht vom gegenseitigen Beurteilen geprägte Atmosphäre in seinen Unterricht bringen, sodass jeder im Saal ruhig und ohne Ego arbeiten konnte. Er sagte oft: „Ich sehe die Bewegung, nicht die Person.“ Er betonte auch immer, dass er keinen bestimmten Stil unterrichtet, sondern eine Methode. Meine Schwester Andra Corvino und ich nennen diese Unterrichtseinstellung die Corvino-Methode; wir finden, sie muss als lebendige Legende durch direkten Kontakt und Erfahrung vom Lehrer an seine Studenten weitergegeben werden, nicht aus einem Buch. Ich habe auch für eine kurze Zeit beim Choreografen Antony Tudor studiert. Er gab selbst zu, dass ihn das Lehren der reinen Technik langweilt, deshalb benutzte er seinen Unterricht auch immer dazu, bestimmte Bewegungsphrasen oder unkonventionelle Übungen auszuprobieren. Obwohl er eigentlich kein Pädagoge war (und leider auch gerne mal Psychospielchen mit seinen Studenten ausprobierte), profitierte ich sehr von seinem kreativen Herangehen an eine Bewegung und von seiner einzigartigen Erforschung ihrer Bedeutung.

3. Sind Sie der Meinung, dass man das Lehren lernen kann? Wenn ja, wie sollte Ihrer Meinung so eine Ausbildung aussehen? 

Ja. Natürlich gibt es mehr oder weniger begabte Lehrer, aber wer unterrichten möchte, sollte erst als Tänzer mit einem guten Lehrer studieren und dann mit diesem Lehrer lehren lernen. Der größte Fehler, den Lehrer-Anfänger machen, ist zu viele Informationen zu geben, ein „over-teach“ bis zu dem Punkt, wo der Schüler nichts mehr aufnehmen kann.

4. Muss für Sie ein Lehrer professionell getanzt haben?

Ich denke es hilft, obgleich ich ein paar sehr gute Lehrer gesehen habe, die nie professionell getanzt haben und viele professionelle Tänzer, die katastrophalen Unterricht gegeben haben! Ich glaube, die Frage ist nicht so sehr, ob er „professionell“ getanzt haben muss, also als bezahltes Mitglied einer Kompanie, sondern die Frage geht nach seiner Erfahrung als Tänzer. Gutes Training und eine gewisse Auftrittserfahrung mit guten Choreografen ergeben zusammen mit Willen und Talent einen guten Lehrer.

5. Was ist für Sie das Wichtigste für erfolgreichen Unterricht? 

Ich glaube, wichtig ist das wahrhafte Verstehen der Grundprinzipien des klassischen Tanzes. Nicht nur im Wort, sondern vor allem in der Aktion. Die sieben Grundprinzipien: Haltung, En-dehors, Platzierung, das Gesetz der Balance, die Grundregeln der klassischen Technik, Gewichtübertragung und Koordination müssen allesamt verstanden sein, sowohl körperlich als auch intellektuell, und müssen dem Studenten auf dem einfachsten Weg beigebracht werden.

6. Was sollen Ihre Schüler nicht vergessen?

Was funktioniert und was nicht - und warum!


Eine kurze Biografie
Ernesta Corvino studierte Ballett mit Margaret Craske, Antony Tudor, Alfredo Corvino und Andra Corvino. Mit 14 wurde sie Solistin im Maryland Ballett und tanzte später beim Metropolitan Opera Ballet und in der Radio City Music Hall Ballet Company. 1981 gründete sie ihre eigene Kompanie, die Ernesta Corvino Dance Circle Company. Sie unterrichtete u.a. in der Juilliard School (wie ihre Schwester Andra es heute noch macht) und an Universitäten, z.B. in Nevada, Las Vegas, Long Island, Urbana/Champaign in Illinois. Sie unterrichtet regelmäßig die José Limon Dance Company und das Tanztheater Pina Bausch. Mehr über diese Tänzerfamilie findet man hier!
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern