Ein Märchen mit Bodenhaftung

Angelin Preljocajs „Schneewittchen“ mit dem Berliner Staatsballett ist alles andere als ein schwereloser Traum

Berlin, 27/04/2009

Wenn sich ein zeitgenössischer Choreograf vornimmt, ein Handlungsballett zu kreieren – und das auch noch zu einem sattsam bekannten Märchenstoff – , dann sind für das Ergebnis zwei Extreme denkbar: entweder minutiöse Dekonstruktion oder ein ästhetischer Absturz in den narrativen Kitsch. Angelin Preljocaj, der derzeit erfolgreichste unter den französischen Tanzschöpfern, hat sich für einen Mittelweg entschieden, der sich trotz kleinerer Schwächen als durchaus tragfähig erweist. Ausgerechnet „Schneewittchen“, das am stärksten sexuell aufgeladene aller Grimmschen Märchen hat sich der Sohn albanischer Emigranten auserkoren, um zu demonstrieren, dass sich auch mit einer absolut heutigen Bewegungssprache Gegebenheiten aus dem kollektiven Unterbewussten plastisch greifbar machen lassen.

In seiner Neuinszenierung mit dem Berliner Staatsballett erzählt der Choreograf den Märchenstoff minutiös nach. Von Schneewittchens Geburt über den Konflikt mit der bösen Stiefmutter bis hin zum glücklichen Ende reiht sich ein Tableau an das andere, ohne dass dem Stoff jemals dramaturgische Gewalt angetan würde. Fast scheint es, als wollte der Franzose, der im Vorfeld immer wieder betonte, dass ihn die Arbeit an einer „Erzählung“ gereizt habe, sich tatsächlich auf die Wiedergabe des Grimmschen Stoffes beschränken. Die Kitsch-Falle vermeidet Preljocaj durch eine überaus geschickte Verpackung. So hat sein Bühnenbildner Thierry Leproust ein semi-abstraktes Setting entworfen, in dem zwar immer wieder konkrete Elemente wie Königsthron, magischer Spiegel oder eine steil aufragende Kletterwand auftauchen, doch wo das märchenhafte Geschehen dank streng durchdachter Beleuchtungseffekte (Licht: Patrick Riou) stets unverortet bleibt. Auch die im Vorfeld heftig beworbenen Bühnenkostüme von Jean Paul Gaultier sind weitaus zahmer und nüchterner geraten, als man es von dem Modemacher mit Faible für postapokalyptischen Sado-Maso-Kitsch erwartet hätte. Schneewittchen trägt eine schlichte weiße Tunika, deren einzig gewagte Elemente zwei atemberaubend tiefe Schlitze an den Seiten und ein Fellpuschel auf der rechten Schulter sind. Die Jäger geben sich als Fremdenlegionäre in olivfarbenen Leggins, der Prinz als stolzer Torero in abricot – und selbst die Dominamontur der bösen Königin wirkt eher wie eine zurückhaltende Hommage an das Rotbart-Gewand russischer „Schwanensee“-Inszenierungen. Zwar hat sich Preljocaj für einen Zusammenschnitt aus Highlights aus Mahler-Sinfonien als Bühnenmusik entschieden, doch bleibt selbst das gewaltige Emotionspotenzial des Spätromantikers durch sparsam-gezielten Einsatz stets kanalisiert.

Soweit so gut. Die Handlung wird sauber durchexerziert, die Präsentation ist geschmackvoll und fast zurückhaltend – doch was möchte Preljocaj nun eigentlich erzählen? Der Schlüssel zu „Schneewittchen“ liegt in der Bewegungssprache des Choreografen, die deutlich vom Werdegang des Künstlers zeugt. Nach einer klassischen Ausbildung studierte er einige Zeitlang bei der Ausdruckstanz-Schülerin Karin Waehner und ging danach für zwei Jahre nach New York zu Merce Cunningham. Von der Klassik hat er sich das Gespür für effiziente Gruppenszenen und Pas de Deux bewahrt, von Cunningham scheint die Neigung zu stammen, den Bewegungsfluss immer wieder zu brechen und allzu ästhetische Figuren stets in eckige, verzerrte Gesten umspringen zu lassen. Das Leitmotiv von „Schneewittchen“ ist jedoch eine fast expressionistische Erdenschwere, die man bei einem träumerischen Märchen kaum erwartet hätte.

Elisa Carillo Cabrera in der Hauptrolle ist kein ätherisches Leichtgewicht, sondern eine selbstbewusste muskulöse Frau, die sich nimmt, was sie begehrt, ohne sich um Form oder Etikette zu scheren. Einer der schönsten Momente des Stückes ist ihr erstes Zusammentreffen mit dem Prinzen (ein wenig blass: Leonard Jakovina), das sich in vollkommener Stille vorzieht. Wie zwei sexuell erwachende Kinder stehen sich die beiden in einer Art Zweikampf gegenüber, der vom Spiegeln der Gesten und Posen des anderen sehr schnell in eine handgreifliche Rangelei übergeht, in der jeder der beiden den anderen hebt und umherschleudert, wie ihn auf seine Widerstandskräfte zu testen. Absolut handgreiflich vollzieht sich auch die Schlüsselszene von Preljocajs Inszenierung: Wenn die böse Schwiegermutter (erstaunlich undamenhaft: Beatrice Knop) wie eine Schlammcatcherin auf ihrer jungen Widersacherin hockt, um ihr den tödlichen Apfel in den Rachen zu stopfen, so wird deutlich, dass hier eine sehr heutige Thematik verhandelt wird: Die ältere Frau kämpft bis aufs Blut gegen die Konkurrenz durch die heranwachsende Rivalin.

Zwar gibt es auch ansonsten optisch noch einiges zu bestaunen – so seilen sich die mit Helmen und Grubenleuchten als Bergleute ausstaffierten sieben Zwerge spektakulär Pirouetten drehend von einer Steilwand ab –, doch bleibt die eigentliche Sensation des Abends der geradezu selbstverständliche Umgang der Berliner Tänzer mit dem unbekannten Bewegungsvokabular. Preljocajs choreografischer Stil ist zwar nicht allzu abwechslungsreich – Hüftverschiebungen, angewinkelte Arme, Drehsprünge und gymnastische Bodenfiguren wiederholen sich oft – doch liegt seine Besonderheit im Umgang mit der Gesamtheit des Körpers. Anstatt sich in leichte Luftwesen verwandeln zu dürfen, werden die Tänzer zu Leibern, an denen die Schwerkraft zerrt – und die zuweilen auch platschend auf den Boden prallen. Mehr als ein ästhetischer oder dramaturgischer Erfolg ist Preljocajs „Schneewittchen“ somit vor allem eines: eine tänzerische Frischzellenkur für das bislang arg einseitig klassisch festgelegte Ensemble von Vladimir Malakhov.

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