Die Verunreinigung des Schwanensees

In Saarbrücken vertändelt Marguerite Donlon den bedeutendsten Ballettklassiker

Saarbrücken, 30/03/2009

In der mehr als hundertjährigen Geschichte des Balletts „Schwanensee“ hat man dem Zauberer Rotbart, negative Hauptfigur und Gebieter über zwei oder drei Dutzend verzauberter Schwanen-Prinzessinnen, schon manches nachgesagt, auch eine Liaison mit der königlichen Mutter des positiven Helden Siegfried. Am Staatstheater Saarbrücken erscheint Rotbart jetzt nicht nur als Bösewicht, sondern als sexueller Triebtäter. In der ersten Szene von Marguerite Donlons mit dem mysteriösen Zusatz „aufgetaucht“ versehener „Schwanensee“-Inszenierung vergewaltigt Rotbart (Lionel Droguet) die aus unerfindlichen Gründen allein im Nichts wandelnde Königin (Liliana Barros) – und das bleibt nicht ohne konkrete Folgen. In der zweiten Szene des Stücks tollt ein etwas übergewichtiger kleiner Knabe über die von Cécile Bouchier gestaltete Szene; dass dieser Knabe, offenbar das Produkt der erzwungenen Paarung, schwarz ist, kann man – obwohl beide Eltern sichtlich der weißen Rasse angehören – als logische Konsequenz der bösen Tat interpretieren, aber auch als eine jener logischen Inkonsequenzen, an denen Donlons Neufassung des Stoffes nicht arm ist.

Konsequent verschiebt die Choreografin die dramat(urg)ischen Schwerpunkte der Handlung. Da Rotbart seine erotische Attacke auf Siegfrieds Mutter am Ende des zweiten Aktes wiederholt, diesmal aber von der selbstbewusster gewordenen Frau zurückgewiesen wird, dient sein Erscheinen auf des Prinzen Brautschau mit der falschen Schwänin weniger der Erhaltung seiner Macht über die Schwanenherde; es bekommt eindeutig den Charakter eines Racheakts, dessen spezielle Perfidie dem Zauberer allerdings nicht bewusst ist. Dass Siegfried sein Sohn und damit der schwarze Schwan, den der Zauberer dem Prinzen anstelle des geliebten weißen Schwans unterschiebt, also Siegfrieds Halbschwester ist, erfährt Rotbart erst am Ende der Thronsaal-Szene durch die einst von ihm geschwängerte Frau. Danach verläuft alles in den halbwegs konventionellen Bahnen. Im kurzen Schlussakt beraubt Rotbarts Zauberkraft den weißen Schwan Odette seines Schwanengefieders, woraufhin sie elendiglich krepiert – was wiederum die anderen Schwäne so erbost, dass sie den Zauberer attackieren und umbringen. So bleibt Siegfried am Ende, nachdem er die geliebte Odette in einer jener gläsernen Schalen, die anscheinend den See symbolisieren, an dem alles spielt, zur letzten Ruhe gebettet hat, trauernd und einsam zurück; den letzten, vom Zuschauer im Grunde erwarteten Gag, dass sich die Schale mit der toten Odette in einen mythischen Himmel erhebt, versagt sich die Choreografin denn doch. Ob sich ein Choreograf, der das klassische „Schwanensee“-Ballett fürs 21. Jahrhundert zeitgemäß aufbereiten möchte, die Handlung so zurechtbiegen darf, wie es Marguerite Donlon jetzt in Saarbrücken getan hat, wäre zu diskutieren.

Dass die Choreografin, die sich mit ihren Neufassungen der Ballettklassiker „Giselle“ und „Romeo und Julia“ große Verdienste erworben hat, mit ihrer „Schwanensee“-Neufassung scheitert, hat einen anderen, tieferen Grund: sie nimmt das Stück als choreografisches Kunstwerk nicht ernst, sondern vertändelt es, indem sie nicht wenige seiner Details in die pure Albernheit hineintreibt und das Ganze in einer Unentschiedenheit stranden lässt, die nicht weiß, was sie eigentlich will: ein märchenhaftes Drama oder eine Klamotte à la „Charlies Tante“. Das beginnt gleich mit der Musik. Donlon übernimmt für ihre Fassung wichtige Passagen der originalen Musik von Peter Tschaikowsky (die Christophe Hellmann mit der Saarbrücker Staatsorchester nicht selten zu lärmend interpretiert). Aber sie möchte – so ihr Dramaturg Christoph Gaiser im Programmheft – „auch das Ungreifbare, das Mehrdeutige, das Unvorhersehbare musikalisch präsent“ werden lassen, und so unterbricht sie Tschaikowskys Melodien immer wieder durch eine elektronische Komposition von Sam Auinger und Claas Willeke, die – wenn sie einsetzt – wie jener Trommelwirbel wirkt, mit dem der Zirkus auf spezielle akrobatische Höhepunkte aufmerksam macht, zum anderen als musikalische Basis für „moderne“ Ensembles dient, die jedoch nichts bewirken außer dem Totschlagen von Zeit. Natürlich hat Donlon in Saarbrücken, obwohl sie ihr Corps de ballet schon mit Studentinnen der Rotterdamse Dansacademie aufpolstert, nicht die Tänzerinnen für die Schwanenreigen in den von Lew Iwanow am Ende des 19. Jahrhunderts geprägten „weißen Akten“. So setzt sie in den Schwanenensembles, unter dem Einfluss offenbar von Matthew Bournes Männer-„Schwanensee“, eine gemischte Truppe ein: halb Frauen, halb Männer.

Generell lässt sie auf halber Spitze tanzen. Doch neoklassisch wirkt das – wogegen nichts zu sagen wäre – nicht einmal in den Schwanen-Ensembles, die von einer anarchischen Wildheit geprägt sind, während die Ensemble-Szenen bei Hofe, wenn die Jugend Party macht, kaum mehr sind als uninspirierte Disco-Tänze. Was freilich die durchaus vorhandenen guten Ansätze nachhaltig zerstört, sind Szenen hirnloser Albernheit, wie man sie einem Comedian im Blöd-TV kaum durchgehen ließe. Das beginnt mit der Ankleidezeremonie des kleinen und bald auch des größeren Prinzen Siegfried durch ein Domestiken-Quartett und endet mit der Brautschau, in der die drei Siegfried dargebotenen Prinzessinnen von so blödsinniger Vulgarität sind, dass sie Rückschlüsse auf den Geisteszustand einer Mutter zulassen, die ihren Sohn mit einem dieser Trampel verkuppeln möchte. Auch der Tanz der vier kleinen Schwäne gehört in diese Rubrik. Dass die Choreografin ihre Nähmaschinen-Schrittchen nicht mehr sehen kann, lässt sich nachfühlen. Doch dass sie das Quartett nicht nur um die fünfte Position eines farbigen männlichen Tänzers erweitert, sondern das Ganze zu einer (wenn auch virtuosen) Parodie verkommen lässt, ist für den kritischen Zuschauer kaum nachzuvollziehen.

Getanzt wird, nicht nur von den fünf kleinen Schwäne, sondern durchgehend, ausgezeichnet. Die Koreanerin Youn Hui Jeon, die am Premierenabend die Odette verkörpert, könnte mit ihrer ätherishen Präzision die Schwanenprinzessin wohl auch in einer klassischen Version des Stücks darstellen. Auch Meritxell Aumedes Molinero, die sich als ihr dunkles Gegenstück Odile zu behaupten hat, macht ihre Sache im Pas de deux mit Siegfried (den sie im Verlauf des Duos nicht einmal ansehen darf) ausgezeichnet. Selbst an ihrem Partner Alfredo García González ist rein tänzerisch wenig auszusetzen. Doch befindet er sich, die grandioseste Fehlbesetzung aller Zeiten in der Rolle des Siegfried, abendfüllend im falschen Stück: ein wunderbar beweglicher Tanzbär, der jeder Gershwin-Choreographie zur Ehre gereichen würde, als Siegfried in einem „Schwanensee“, auch wenn der mit Zusatz „aufgetaucht“ daherkommt, aber wie ein schlechter Witz wirkt. Das Premierenpublikum, übrigens, focht alles das nicht an. Es feierte alle Beteiligten mit tosendem Beifall und einer Standing Ovation. Aber das kennen wir ja auch aus anderen Städten, in denen das Publikum sein Ballett liebt und feiert, stelle es an, was es wolle. 

Link: www.theater-saarbruecken.de

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