Wieder eine Eintagsfliege

Langweiliges Repertoire und gute Tänzer - Die vergangene Spielzeit beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 17/08/2009

Die Luft ist raus beim Stuttgarter Ballett. Noch tröstet sich das Publikum mit den hervorragenden Tänzern über das zunehmend langweiliger werdende Repertoire hinweg und manch einer klammert sich an die zweifelhafte Erkenntnis, dass es anderswo auch nicht viel besser ist. Wer die renommierte Kompanie aber an ihren Glanzzeiten misst und Intendant Reid Anderson an seinem abwechslungsreichen, großartigen ersten Jahrzehnt, der kann auch von dieser Spielzeit wieder nur enttäuscht sein. Geduldig und mit genauso gemischtem Erfolg wie seine Kollegen in München oder Berlin setzt Anderson die Suche nach neuen Handlungsballetten fort – Kevin O’Days wirr erzählter, leer-virtuoser „Hamlet“ blieb ebenso eine schillernde Eintagsfliege wie die meisten neuen Abendfüller, ganz egal bei welcher großen Kompanie. Der weltweite Mangel an Tanz-Erzählern wird immer eklatanter und beschert Ballettdirektoren mit unausweichbarer Regelmäßigkeit den Griff ins Klo – da hilft dann nur noch der Griff ins Repertoire, man setzt die bewährten Klassiker aufs Programm und tanzt sie möglichst gut.

Dass das Stuttgarter Ballett auch mal ein selteneres Werk der Tanzhistorie wie etwa „La Bayadère“ auf die Bühne bringen könnte (die letzte Klassiker-Neuinszenierung liegt mit „Don Quijote“ immerhin neun Jahre zurück) kommt Reid Anderson dabei aber ebenso wenig in den Sinn wie einer von William Forsythes abstrakten Abendfüllern a la „Artifact“, der den schnellen Stuttgarter Tänzern so gut stehen würde – für solche Meisterwerke der Moderne muss man nach Zürich oder München pilgern.

Selbst der moderne Abend im Schauspielhaus geriet in dieser Spielzeit seltsam einförmig. Ob es klug war, von Marco Goecke nur die Übernahme eines älteren Stückes einstudieren zu lassen? Ob es klug ist, Douglas Lee immer noch eine Chance zu geben, obwohl er sich nicht weiterentwickelt? Eine kleine Überraschung immerhin gelang Anderson mit dem Rumänen Edward Clug, kaum vergleichbar aber mit seinen früheren Entdeckungen wie Wayne McGregor oder Mauro Bigonzetti. Jorma Elos „Slice to sharp“ hübschte einen ansonsten seriös-klassischen Ballettabend modernistisch auf, war unterhaltsam anzuschauen und doch vollkommen beliebig. Hauschoreograf Christian Spuck überraschte mit Glucks „Orphée“ als bilderstarker Opernregisseur und enttäuschte als Schritte-Erfinder.

Steht zu hoffen, dass es wenigstens den Damen und Herren auf der Bühne nicht langweilig wird. Andersons Auge für Tänzer ist noch immer Stuttgarts größtes Kapital, seine hervorragend besetzte Riege an männlichen Solisten hätte sogar den Abgang von Jason Reilly verkraftet – was für ein Glück, dass er uns erhalten bleibt. Der Krankenstand ist nach wie vor hoch, vielleicht muss man sich doch einmal fragen, ob es nicht am Training liegt, wenn zum Teil ein Viertel der Kompanie verletzt ausfällt.

Einige Solisten wie Douglas Lee oder Jiří Jelinek waren kaum auf der Bühne zu sehen, Friedemann Vogel dagegen trat öfter in London oder Mailand auf als zuhause. Mit seiner superben Technik steht er derzeit im Zenit seines Könnens, und bräuchte, um einer der ganz großen Weltstars zu werden, nun dringend eine Herausforderung als Interpret, will heißen einen Choreografen, der mit ihm arbeitet. Nachdem auch Elena Tentschikowa kaum mehr tanzte und sich nun leider von der Bühne verabschiedet hat – gerade in ihrer letzten Rolle, als Klara in Marco Goeckes „Nussknacker“, wird sie unersetzlich sein –, machten zwei junge Corpstänzerinnen mit blitzsauberer Technik auf sich aufmerksam, Rachele Buriassi in „Theme and Variations“ und die sprungstarke Angelina Zuccarini in „La Fille mal gardée“. Myriam Simon überzeugte als Dramatikerin in „Poème de l’extase“, wenngleich nicht als klassische Ballerina, mit William Moore wächst der Kompanie ein neuer Kronprinz vom Schlage Jason Reillys heran, ein Alleskönner und sensibler Schauspieler. Alexander Jones gefiel weiterhin als frischer, spontaner Darsteller, seine Sprünge als Colas blieben aber arg am Boden kleben. Als liebe- und stilvoller Charaktersolist tat sich Tomas Danhel hervor, der die Ernennung zum Halbsolisten viel eher verdient hätte als etwa Laurent Guilbaud - der verunzierte als Alternativbesetzung Goeckes „Nussknacker“ ebenso wie die „Dances at a Gathering“ vor zwei Jahren.

Obwohl mit Reilly und Maria Eichwald die beste Besetzung in „Der Widerspenstigen Zähmung“ seit Marcia Haydée und Richard Cragun gefunden ist und obwohl zahlreiche Repertoire-Aufführungen dieses Klassikers ein reines Entzücken waren, sind die Zeiten wohl vorbei, wo man sich blind darauf verlassen konnte, dass Crankos Ballette in Stuttgart am besten getanzt werden. Ganze vier Vorstellungen lang entstellte Alicia Amatriain den Part der Katharina durch ihr maßloses Übertreiben, ohne offensichtlich ein einziges Wort der Korrektur von einem der ansonsten so heikel auf Werktreue bedachten Cranko-Bewahrer wie Anderson, Dieter Gräfe oder Georgette Tsinguirides zu hören. Wo großen Ballerinen wie Evelyn Hart, Sylvie Guillem oder Tamara Rojo die Cranko-Rollen verweigert wurden, gilt bei der blonden Spanierin offenbar ein anderes Maß. Was passiert in Stuttgart, wenn Sue Jin Kang oder Maria Eichwald einmal nicht mehr tanzen, von wem sollen die jungen Ballerinen lernen?

Die Langeweile hat auch ihr Gutes – Karten bekam man fürs Stuttgarter Ballett in dieser Spielzeit so leicht wie selten zuvor, nicht einmal die große Geburtstagsgala für den Ballettdirektor war ausverkauft; mit ihrer Organisation trat Andersons Stellvertreter Tamas Detrich zum ersten Mal ins Rampenlicht, den der etwas müde wirkende Kompaniechef offensichtlich als seinen Nachfolger installieren will. Wo man anderswo, zum Beispiel beim Dresdner Ballett, die Preise fürs krisengeschüttelte Theaterpublikum senkt, da werden sie in Stuttgart bis zum Anschlag hochgesetzt. So zahlt man für die „Zähmung“, mit zweieinviertel Stunden nicht einmal halb so lang wie „Lohengrin“ und seit 40 Jahren im Repertoire, inzwischen genauso viel wie für eine Wagner-Oper. Kein Problem, mit Gauthier Dance im Theaterhaus oder der gerade im nächsten Jahr hochkarätigen Tanzreihe im Ludwigsburger Forum gibt es erfreulich abwechslungsreiche und deutlich billigere Alternativen.

www.stuttgart-ballet.de

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