Im „Zwölften Stock“ am Puls der Zeit

Die Stuttgarter Choreografin Tanja Liedtke mit „Twelfth Floor“

Stuttgart, 20/10/2009

Vor ein paar Wochen hätte sie ihren 32. Geburtstag feiern können: Tanja Liedtke aus Stuttgart, die vor zwei Jahren die künstlerische Leitung der Sydney Dance Company übernehmen sollte. Doch das Schicksal meinte es anders mit dem aufgehenden Tanzstar aus Deutschland, auf den in Australien so viele ihre Hoffnungen gesetzt hatten: Bevor Tanja Liedtke als Nachfolgerin von Graeme Murphy ihren Posten übernehmen konnte, kam sie am 17. August 2007 bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Wie so oft, wenn der Kopf vom vielen Choreografieren partout nicht zur Ruhe kommen wollte, drehte sie des Nachts etwas gedankenverloren noch ein paar Runden...

Ihr früher Tod ist nicht zuletzt so tragisch, weil die Stuttgarterin zu jenen kreativen Künstlerinnen gehörte, die das Gesehene nicht auf andere Weise reproduzieren, sondern tatsächlich eine neue Bewegungssprache begründen. In Madrid wie in London ausgebildet, entwickelte Tanja Liedtke schon früh eine eigene Sicht des Tanzes, den sie selbst bei Kompanien wie dem Australian Dance Theatre oder Lloyd Newsons DV8 Physical Theatre formvollendet und dabei äußerst feminin praktizierte (wovon man sich in dem Film „The Cost of Living“ überzeugen kann). Nicht zufällig gehörten so aufgeschlossene Kompanien wie das De Anima Ballet Comtemporâneo von Richard Cragun und Roberto de Oliveira zu ihren ersten Auftraggebern. Für die Akademie des Tanzes in Mannheim schuf sie vor ein paar Jahren auf Anregung von Birgit Keil ein Stück mit dem Titel „Angels Fallen“.

Ihren internationalen Durchbruch erzielte Tanja Liedtke 2004 mit ihrem ersten Abendfüller „Twelfth Floor“, der vom 21. bis zum 23. Oktober nun endlich auch im Stuttgarter Theaterhaus zu sehen ist: kein Stück Tanztheater, über das der Zuschauer ins Träumen geraten könnte, sondern eine knallharte Choreografie, die einen auf beunruhigende, wenn auch immer unterhaltsame Weise mit einer Wirklichkeit konfrontiert, von der wir gar nicht mehr so weit entfernt scheinen. Seismografisch reagiert darin die „Deutsche Downunder“, wie das Goethe-Institut die langjährige „Freundin und Partnerin“ auf seinen Internetseiten nennt, auf eine Veränderung der Realität, die den meisten noch gar nicht bewusst geworden ist.
Wo sie den „Zwölften Stock“ installiert, wird nicht verraten. Der Raum, in den uns Gaelle Mellis führt, er könnte sich in einer psychiatrischen Anstalt wieder finden oder Zwischenstation sein im modernen Strafvollzug. Die Türen sind jedenfalls nicht so verschlossen, wie man anfangs glaubt, aber wenn sie sich öffnen, setzen sie einen Unterdrückungsmechanismus in Gang, der sich nicht so ohne weiteres erklärt. Ist Amelia McQueen, die die vier Insassen wiederholt in Angst und Schrecken versetzt, tatsächlich eine Domina oder am Ende doch nur ein Zombie, den die anderen zwischendurch als Sexpuppe missbrauchen?

Tanja Liedtke spielt mit den klaustrophobischen Möglichkeiten ihres Raums – und choreografiert im übrigen ein Stück, in dem die Emotionen schonungslos aufeinander prallen: Mal lassen Anton und Craig Bary kraftmeierisch ihrer Konkurrenz freien Lauf, mal flüchten sich Kristina Chan und Joshua Tyler schutzsuchend in einem sehnsüchtigen, geradezu anrührenden Miteinander. Immer findet Tanja Liedtke für alle Akteure eine Bewegungssprache, die individuell ist, innovativ und dabei so aktuell, wie man sich das eigentlich nur wünschen kann. Keinen Augenblick fühlt man sich als Zuschauer außer Acht gelassen, stets spürt man den Puls der Zeit – und doch ist der „Twelfth Floor“ ganz eigen. Man mag sich gar nicht erst vorstellen, was aus Tanja Liedtke noch alles hätte werden können, wenn sie nicht so früh gestorben wäre.

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