Die Liebe kennt nicht Raum noch Zeit

Heinz Spoerli choreografiert Leoš Janáčeks „Intime Briefe“

oe
Zürich, 01/09/2009

Von allen Streichquartetten der Musikgeschichte, von Joseph Haydns „6 Quatuors“ des Jahres 1781 bis zu Luigi Nonos inzwischen auch schon wieder dreißig Jahre alten „Fragmente – Stille. An Diotima“, hat kein einzelnes Werk außer Schuberts „Das Tod und das Mädchen“ auf die Choreografen eine so starke Anziehungskraft ausgeübt wie Leoš Janáčeks „Listy duverne“, sein Streichquartett Nr. 2 aus dem Todesjahr 1928, die „Intimen Briefe“. Sie sind eine einzige große musikalische Konfessio der überaus stürmischen Liebe des 74-jährigen Komponisten an die damals 36-jährige Kamila Stösslova. Es ist das Zeugnis einer amour fou, der auf Erden keine Erfüllung beschieden war.

Gise Furtwängler (eine gute Gelegenheit, wieder einmal an die allzu früh verstorbene feinsinnige Choreografin und Ballettchefin in Oberhausen, Münster und Köln zu erinnern) und Pavel Smok, Lynn Seymour, Jiří Kylián und Christopher Bruce haben sich auf sehr verschiedene Weise damit auseinandergesetzt, bald mehr, bald weniger auf ihren anekdotischen Inhalt anspielend. Wobei der Prager Pavel Smok, durch dessen Ballett-Oeuvre sich die Musik Janáčeks wie ein roter Faden zieht, in seiner Choreografie das Kardiogramm dieser Fieberkurve minuziös nachgezeichnet hat. Jetzt hat sich Heinz Spoerli am Opernhaus Zürich, wie schon so oft zu Beginn der neuen Spielzeit, wenn das Orchester sich noch im Urlaub befindet, aber auf eine musikalische live-Begleitung Wert gelegt wird, unter dem Titel „Lettres intimes“ dieses Quartetts angenommen – als Auftakt eines Programms, das im weiteren eine Wiederaufnahme der „Sarcasms“ von Hans van Manen (zu Prokofjews Klavierpiecen) bietet sowie von Twyla Tharp als Schweizer Erstaufführung „In the Upper Room“ zu Musik von Philip Glass (und die denn doch zu einer Tonbandeinspielung).

Es ist ein sehr schwieriges, sehr komplexes Ballett geworden, für zwei Solisten, die aus Kasachstan stammende Aliya Tanikpayeva und den aus Hamburg zur Zürcher Kompanie gestoßenen armenischen Arsen Mehrabyan, einen jener Wunderknaben, wie sie die Schule von Jerewan heutzutage offenbar am laufenden Band hervorbringt. Weiter treten fünf Gruppentänzerinnen und sechs Gruppentänzer auf. Das Bühnenbild stammt von Florian Etti, die Kostüme von Nelly an de Velden, die Lichtgestaltung von Martin Gebhardt und es spielen vier Solisten des Zürcher Opernorchesters. Mit ihnen jagen wir über die Gipfel und stürzen uns in die Abgründe dieser Musik, deren jähe Umschwünge eher die Leidenschaft eines jungen Mannes des Sturms und Drangs suggerieren als die Serenität eines an der Schwelle des Todes stehenden Komponisten (der die Uraufführung seines Quartetts nicht mehr erlebte).

Janáček, wie gesagt, war 74, als er die „Intimen Briefe“ komponierte, eine durch und durch männliche Musik, in der die lyrisch-weichen, femininen Emotionen wie ein fernes Wetterleuchten aufblitzen. Spoerli ist inzwischen 69, also nicht so sehr viel jünger als Janáček und wie dieser in der Vollkraft seiner Kreativität stehend. So bleibt es jedermann überlassen, zu mutmaßen, wie viel autobiografische Erfahrung in seine Choreografie eingeflossen ist. Sie ist von einer zeit- und ortslosen Moderne – allenfalls kann man mit dem Blau und Grün des Hintergrunds die mährischen Wälder Janáčeks assoziieren (ich musste an Schmidt-Rottluffs Landschaften denken). Sie ist jedenfalls von einer auffallenden Unruhe geprägt, - eine Choreografie der Abbreviaturen, der abgebrochenen, nicht zu Ende geführten Gedankensplitter – wie wenn nicht mehr viel Zeit bleibe, alles zu sagen, was man noch zu sagen hat.

Es ist jedenfalls eine unbedingt lebensbejahende Musik, ständig in den Grenzbezirken ekstatischer Verzückung verweilend, ab und zu in folkloristisches Gestampfe, dann wieder in martialische Signale ausbrechend – ich kenne keine Musik, die so unverhohlen autobiografisch geprägt ist. Milos Kundera hat sie als einen expressionistischen Realismus charakterisiert. Spoerli ist ein viel zu musikalischer Choreograf, um das zu ignorieren – andererseits scheut er sich, Janáček realistisch zu porträtieren. Und so hat er erklärt: „Im Zentrum meiner Choreografie steht ein Mann, der mit einer Frau eine Beziehung hat, fünf weitere Paare spiegeln die Geschichte dieser Hauptfigur. Sie ist von Zweifeln zerrissen, hat nicht den Mut, diese Liebe zu leben; aber es ist nicht Janáček.“ Er ist es in der Tat nicht. Dieser wunderbare Armenier – eine ausgesprochene Bereicherung in Spoerlis an Männer auch sonst nicht gerade armen Ensemble – ist am Anfang allein auf der Bühne – und er ist es auch am Schluss – ein „Loner“, der sich danach sehnt, von den anderen angenommen zu werden, und besonders von der ganz in ihre Weiblichkeit gebettete Kasachstanerin – und der sich doch mimosenhaft jeder Annäherung entzieht, sie von sich weist, der sich immer wieder die Hand vor Augen hält, wie um sich zu vergewissern, wo er sich befindet, der minutenlang in den Zuschauerraum starrt. Und der doch ein so anschmiegsamer Partner sein könnte, wie es die wenigen Passagen zeigen, in denen die beiden, eins geworden, simultan und parallel miteinander tanzen. Doch er reißt sich wieder los. Verweigert sich auch den Kumpels, die ihn mitnehmen wollen (zum Fußballspiel?). Er kann nicht aus seiner Haut heraus. Janáček aber konnte es, nicht seiner bürgerlichen Herkunft entfliehen, aber als Briefeschreiber und als Komponist. Und wir hören es aus seiner jubelnden, oft hymnischen Musik. Und die spiegelt Spoerli in seinen choreografischen Abbreviaturen – in ihrer rhythmischen Nervosität, ihren erratischen Jagden.

Das ist toll gemacht und faszinierend anzusehen und wird von den Tänzern hin- und mitreißend ausgeführt. Und zielt doch am Kern dieser Musik vorbei, „deren Töne“, wie er schreibt, „von all dem Lebenswürdigen durchglüht sind, was wir miteinander erlebt haben. Hinter jedem Ton stehst Du, lebhaft, nahe, strahlend vor Liebe … seit elf Jahren bist Du mir, ohne es zu wissen, überall Beschützerin … in meinen Kompositionen, dort, wo reines Gefühl, Aufrichtigkeit, Wahrheit, glühende Liebe wärmt, bist Du…“. Spoerli hat Janáček choreografiert, wie wenn der Beethoven wäre und von der „fernen Geliebten“ schwärmte. Vielleicht sollte er sich demnächst einmal des ersten Streichquartetts von Janáček annehmen, das er auf Anregung von L. Tolstois „Kreutzersonate“ komponierte. Das wäre dann eine Rolle für seine schöne Kasachstanerin, die ihren eifersüchtigen Mann umbringt. Doch nach dem großen Ernst der „Intimen Briefe“ nehmen sich die van Manen-Prokofjewschen „Sarcasms“ wie eine frivole Petitesse aus – und Twyla Tharps „In the Upper Room“ von den wie in ihren Sträflings-Pyjamas gekleideten munter herumhüpfenden Girls und Boys wie das morgendliche Jogging der Insassen von Sing-Sing.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern