Der neue Hamburger „Orpheus“

oder: „Wie ergänze ich eine Ballett-Ikone?“

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Hamburg, 11/12/2009

1962. Das ist nun bald ein halbes Jahrhundert her. Am 16. Januar 1961 hatte John Cranko als Nachfolger von Nicholas Beriozoff sein neues Amt als Stuttgarter Ballettdirektor angetreten. 1962 war ein Red-Letter-Day für das Ballett in Deutschland: damals lud Rolf Liebermann, Intendant der Hamburgischen Staatsoper, der entschlossen war, das Hamburger Ballett zu einem deutschen Pendant des New York City Ballet auszubauen, Igor Strawinsky ein, seinen achtzigsten Geburtstag im Juni offiziell in Hamburg zu feiern – mit ein paar von Strawinsky dirigierten Vorstellungen von „Apollon musagète“ „Orpheus“ und „Agon“ – alle in der Choreografie von George Balanchine, getanzt von Solisten des New York City Ballet und Mitgliedern des Hamburgischen Staatsopernballetts, dessen Chef damals Peter van Dyk war: Hamburg hatte 1960 die ersten deutschen Einstudierungen von Balanchine-Balletten herausgebracht: „Serenade“ und „Concerto Barocco“. Das Strawinsky-Festival sollte einer der Höhepunkte der Hamburger Liebermann-Ära werden. Wurde es auch! Damals hoffte man noch, dass Strawinsky eines Tages „Apollo“ und „Orpheus“ um ein drittes Ballett zu einer Antiken-Trilogie vervollständigen würde. Dazu kam es indessen nicht mehr, denn Strawinsky starb 1971, knapp 89 Jahre alt.

1963 trat John Neumeier, 21 Jahre alt, sein erstes Profi-Engagement als Tänzer beim Stuttgarter Ballett an. Er machte dort rasch Karriere, auch als Kostümbildner und Jungchoreograf, und wurde 1969 als jüngster Deutsch-Amerikaner Ballettchef in Frankfurt. Dort inszenierte und choreografierte er 1971, 29 Jahre alt, Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“. Jetzt hat er, inzwischen 67-jährig und Intendant des Hamburgischen Balletts, sich erneut dem Orpheus-Thema zugewandt und mit seiner Kompanie „Orpheus“ als abendfüllende Produktion herausgebracht, Ballett in zwei Teilen, Musik von Igor Strawinsky („Apollon musagète“ und „Orpheus“), Heinrich Ignaz Franz Biber (aus dem Album „Rosenkranz-Sonaten“) und Peter Blegvad & Andy Partridge (aus dem Album „Orpheus the Lowdown“ mit ins Englische übertragenen Texten aus Rilkes „Sonette an Orpheus“). Niemand wird behaupten wollen, dass der neue Hamburger „Orpheus“ das Ballett ist, das Strawinsky nicht komponiert hat, doch bedenkt man, dass Strawinsky sich ja in seinem Oeuvre wiederholt mit der Musik von Kollegen (etwa in „Pulcinella“ und „Kuss der Fee“) auseinandergesetzt hat, wird man Neumeier nicht absprechen können, dass er die beiden originalen Strawinskys um zwei Kompositionen ergänzt hat, die sich thematisch seinem Konzept, den Orpheus-Mythos in die Gegenwart zu transponieren, empfehlen.

Denn Orpheus ist für Neumeier ein Soloviolinist, Sohn von Apollo und der Muse Kalliope, der mit seinem Spiel die Menschheit beglückt und so auch Eurydike gewinnt, die bei einem Autounfall ums Leben kommt. Nahtlos funktioniert die Verbindung Strawinskys mit den Violinsonaten von Biber, die von dem Barockgeiger Rüdiger Lotter auf der Bühne gespielt werden und in die Choreografie einbezogen sind. Weniger befreunden kann ich mich mit dem harten Schnitt zu den elektronischen Klängen und Texten von Blegvad & Partride für den Autocrash, bei dem Eurydike ums Leben kommt. Nicht so sehr wegen des Kontrastes von Elektronik versus Live-Musik, sondern wegen der Texte, die im Augenblick der Aufführung unverständlich an einem vorüberrauschen – als bloße Klangkulisse, die man hinterher im Programmheft nachlesen kann, die aber, wie gesagt, nicht als solche wahrgenommen werden (das alte Lied: die Choreografen kennen sie, das Publikum überfordern sie).

Ich hätte mir stattdessen einen textlosen rein musikalischen Kontrast gewünscht, der sich bei den Dutzenden von Vertonungen dieser Figur zwischen Monteverdi und, sagen wir, Henze leicht hätte finden lassen. Natürlich bleiben solche nachträglichen Komplettierungen immer problematisch (siehe Puccinis „Turandot“ oder Busonis „Doktor Faust“), doch die von Neumeier (und seinem musikalischen Berater, dem vorzüglichen Dirigenten Simon Hewett) vorgenommene Kopulation empfinde ich als forciert und künstlerisch fragwürdig. Nicht so die Ergänzung der beiden Strawinskys durch den Salzburger Hofkomponisten Heinrich Ignaz Franz von Bibern (1644 -1704), dessen Violinsonaten zur „Verherrlichung von 15 Mysterien aus dem Leben Mariae“ sich gut in den Kontext von Strawinskys „Monumentum pro Gesualdo“ einpassen. Hier ist Neumeier und Hewett ein Akt musikdramaturgischer Alchimie geglückt, der mir einmalig zu sein scheint. Und der ja vielleicht auch eine Rolle gespielt haben mag, diesen neuen „Orpheus“ für die Salzburger Festspiele zu konzipieren – sozusagen als Krönung von Neumeiers Salzburger Trilogie – nach der „Matthäus-Passion“ von Bach und dem „Requiem“ von Mozart (ergänzt durch gregorianische Gesänge), geplant als Aufführung in der Felsenreitschule.

„Die Gespräche liefen über zweieinhalb Jahre, bis es etwa im Herbst 2008 zu einem Schweigen und im Juni 2009 schließlich zu einer Absage kam. Neumeier: „Die Begründung der Absage ist für mich vage und ehrlich gesagt, kann ich mich nicht mehr an sie erinnern. Ich erinnere mich nur an eine E-Mail von vier Zeilen. Auf die Absage habe ich nicht reagiert.“ Man kann sich vorstellen, was für einen Schlag das Scheitern dieses Projekts für Neumeier bedeutete. Nur für Neumeier? Ich meine: für das zeitgenössische Ballett-Theater allgemein. Denn mit seiner Umwidmung der Balanchine-Ikone von „Apollon musagète“ in ein „Orpheus“-Ballett (mit diversen Balanchine-Zitaten wie zum Beispiel die ausgestreckte Michelangelo-Hand mit dem Zeigefinger des Schöpfers) hat Neumeier einen Akt choreografisch-dramaturgischer Mimikry vollbracht, der musikalisch perfekt funktioniert. Die Salzburger Absage des „Orpheus“-Projekts ist ein Skandal – und die Hamburger Ersatzlösung, bei aller Anerkennung des totalen Einsatzes aller Beteiligten – Tänzer, Orchester, Technik – eben leider: nur ein Ersatz. Eine frustrierende Erfahrung!

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