Der legitime Erbe Iwanows

Christopher Wheeldons „Schwanensee“ am Badischen Staatstheater

oe
Karlsruhe, 24/11/2009

Karlsruhes neuer „Schwanensee“ ist nichts für Petipa- und Iwanow-Fundamentalisten. Und auch nichts für Mats-Ek- und Matthew-Bourne-Provokateure. Und schon gar nichts für Tanztheaterkumpel à la Kresnik und Thoss (nicht zu reden von so antimusikalischen Routiniers wie Wherlock und Godani). Dafür aber für Leute, die wie oe eigentlich gründlich „Schwanensee“-überdrüssig sind, mit der Story nicht viel anfangen können und auch sonst für Schwäne nicht viel übrighaben. Die allerdings können sich die Augen reiben angesichts des neuen Karlsruher „Schwanensees“ von Christopher Wheeldon, den Birgit Keil vom Pennsylvania Ballet eingekauft hat und mit Hilfe von Tamara Hadley auf ihre Kompanie am Badischen Staatstheater übertragen hat, die dem hohen tänzerischen Anspruch alle Ehre macht. Picobello sieht sie aus in der von Adrianne Lobel und Jean-Marc Puissant ausgestatteten Produktion, von der Badischen Staatskapelle unter der Leitung von Markus Bieringer mit tänzerischem Fußspitzengefühl feinnervig begleitet, inklusive des silberstimmigen Trompetensolisten und des sich in stratosphärische Höhen aufschwingenden Soloviolinisten Janos Ecseghy.

Wheeldon transferiert die Handlung in ein Pariser Ballettstudio anno 1870: Tschaikowsky trifft Edgar Degas. Das ist ein aparter Einfall. Geprobt wird „Schwanensee“ und es gibt einen Gast vom Jockey-Club, der sich später in Rotbart verwandelt. Von dem Handlungsstrang der Volljährigkeitsfeier Siegfrieds und seiner Aufforderung, sich eine Braut zu wählen, sind nicht mehr als ein paar Stichworte übriggeblieben. Siegfried, der Ballerino, träumt sich in die Schwanenbegegnung hinein – es kommt zur Auseinandersetzung mit Rotbart. Der dritte Akt spielt in einem Pariser Nachtclub mit Dinner-Show, er vierte wieder am Seegestade (das hier eng in die Grundmauern eingebettet ist). Die Schwäne formieren sich zum Angriff gegen Rotbart („Wir sind die Schwäne!“) und töten ihn und ziehen dann, unerlöst, inklusive Odette weiter in die Ferne, während Siegfried-Ballerino mit gebrochenem Herzen allein zurückbleibt.

Wenn denn, wie es heißt, Iwanow den zweiten und vierten Akt choreografiert hat (und Petipa den ersten und dritten), so hat sich Wheeldon eindeutig an Iwanow gehalten, den ersten Akt mit den zahlreichen Degas-Zitaten, inklusive dem auf Hochglanz polierten Pas de trois und vor allem den Walzer und die Polonaise, mit so abwechslungsreichen Gruppierungen und Mustern, dass die Augen es kaum fassen können. Dazu mit einer wunderbaren Musikalität. Und so im zweiten und vierten Akt, die mit immer neuen Arrangements aufwarten, wie wenn Wheeldon einen Meisterkurs bei Iwanow absolviert hätte – um den verehrten Meister dann doch noch zu übertreffen. Bei den Kabarett-Einlagen des dritten Aktes (das sind die Charaktertänze) habe ich meine Zweifel, die sehen allerdings ganz und gar nicht nach Iwanow aus, so nah Wheeldon auch der Musik bleibt. Doch auch hier: der Pas de quatre und die großen Gruppentänze faszinieren in ihrem Formenreichtum (der „Schwarze Schwan“ ist im Petipaschen Original belassen).

Insgesamt würde ich sagen, der Philadelphia-Karlsruher „Schwanensee“ von Wheeldon ist die Diplomarbeit eines Meisterschülers von Iwanow. Und getanzt wird er so sauber und akkurat, und dabei so hinschmelzend eingebettet in den Kantilenenfluss der Musik, dass man sich die Augen reibt. Von einer Kompanie, die mit ihren Karlsruher Profis und Mannheimer Exzellenzen aus einem Guss zusammengeschweißt erscheint, dass sich auch die hochmögende Konkurrenz eine Scheibe davon abschneiden kann. Dies war die zweite Vorstellung – schon mit einer anderen Besetzung als die von Raffelle Queiroz und Flavio Salamanka getanzte Premiere. Hier nun also Elena Gorbatsch die aus Kiew stammende Odette-Odile mit Diego de Paula als Siegfried, sie eine souveräne Ballerina mit feiner Linie und einer Präzisionstechnik wie ein Schweizer Uhrwerk – er ein eleganter Kavalier und die Lüfte durchsegelnder Sputnik. Doch, wie gesagt, dies ist eine Produktion, mit der sich das Karlsruher Ballett die Qualifikation für die A-Liga der deutschen Opernballette ertanzt hat.

 

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