Zauberhafte Ovid-Szenen

„Metamorphosen“, Tanztheater von Verena Weiss

Luzern, 15/04/2008

Am Anfang befürchtet man Kitsch. Allzu schön sieht die weiss ausgeschlagene Bühne aus, mit einem sanften Stier darauf oder einer Figurine, die eine goldene Kugel in den Händen hält. Sogar das Orchester ist in Weiss gekleidet.
Doch bald entwickelt sich auf der Bühne feingesponnener bis dramatischer Tanz. Ins Weiss mischen sich Grau und Schwarz. Die von einer Leiter heruntersteigenden Götter ziehen die Masken vom Gesicht – manchmal zur Fratze verzerrt. Sie nähern sich den Menschenfrauen. Die oft aus Schleiern bestehenden Kostüme der Tänzerinnen beginnen zu fliegen und zu fetzen. So geht das harmonische goldene Zeitalter, das im Eröffnungsbild erscheint, allmählich ins silberne und eiserne Zeitalter über. Liebe, Laster und Gewalt entfalten sich.

Es hilft durchaus, Ovids „Metamorphosen“ (abgeschlossen im Jahr 8 n.Chr.) zu kennen, die Verena Weiss zu ihrem Tanzstück inspiriert haben. Aber notwendig ist es nicht. Die lateinischen Verse, welche die Tanzenden zitieren (müssen), versteht wohl ohnehin fast niemand – auch jene nicht, die in der Schule jahrelange Latein gebüffelt haben! Trotzdem werden sie den einen oder andern antiken Mythos identifizieren können. Etwa die Geschichte von Apollo, der sich in die Nymphe Daphne verliebt; sie jedoch flieht vor ihm, lässt sich in einen Baum verwandeln, um sich den Mann vom Leib zu halten. Am Ende zottelt der Gott mit einem Holzgerippe im Arm ab. Weitere Szenen erinnern an Pluto in der Unterwelt, an eine Gruppe gewappneter Amazonen – oder an Medea im tödlichen Ringen mit ihrer Nebenbuhlerin, die ihr den Ehemann Jason ausgespannt hat. Mit oder ohne Wiedererkennungseffekt: Die fliessenden, sich ballenden und explodierenden Bewegungen der barfüssigen vier Tänzerinnen und sieben Tänzer wirken subtil abgestuft. Dabei enthalten die Szenen auch viel Ironie.

Am Ende verlässt Verena Weiss in ihrer einstündigen Choreografie das Ovidsche Zeitalter. Auf der Bühne rücken vier bunt gewandete Rokokofiguren an, die Damen mit Ausschnitt, die Herren mit putzigen Schnürschuhen. Befinden wir uns am Hof von Louis XV. oder schon von Marie Antoinette? Aus dem französischen 18. Jahrhundert stammt jedenfalls auch die live gespielte Musik: Das 20-köpfige Barockensemble „La Gioconda“ des Luzerner Sinfonieorchesters spielt unter Howard Arman auf alten Instrumenten diverse Stücke von Jean-Philippe Rameau. Dazwischen erklingen vom Medienträger kontrastierende Vokalpartien (Gesang, Sprache, Atem), die Arman eigens für die Luzerner „Metamorphosen“ komponiert hat. Auch die Bühne mit ihren sparsamen, symbolträchtigen, sich stets leicht verschiebenden Requisiten und das Licht wirken märchenhaft (Bild und Kostüme: Hans-Martin Scholder). So bleiben die „Metamorphosen“ als stimmungs- und spannungsvolles Ganzes in Erinnerung. Schön, irritierend und fast ohne Kitsch!

www.luzernertheater.ch

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