Von Thomas Manns Zauberberg inspiriert

Joachim Schlömers „in Schnee“ zu Bachs Solo-Cellosuiten begeistert und befremdet

Luzern, 17/08/2008

Im Rahmen des Lucerne Festivals, das dieses Jahr erstmals auch den Tanz berücksichtigt, hat Joachim Schlömer am KKL Luzern „in schnee“ zur Uraufführung gebracht. Eine ambitiöse Musik-Tanz-Theater-Produktion, ebenso großartig wie verwirrend.

Durchwegs großartig, farbig, tänzerisch kommt die Musik daher: die sechs Suiten für Violoncello Solo von Johann Sebastian Bach, mit ihren stilisierten Allemandes, Courantes, Sarabandes, Menuets und Gigues. Dabei lösen Sebastian Diezig, David Pia und Mattia Zappa einander an ihren Instrumenten ab, einer verführerischer spielend als der andere. Die Cellosuiten sind übrigens schon öfter mit Tanz verbunden worden. So hat Heinz Spoerli mit dem Zürcher Ballett aufgrund von je drei Suiten zwei abendfüllende Werke kreiert: „…und mied den Wind“ sowie „In den Winden im Nichts“ (1999 und 2003).

Joachim Schlömer hat mehrfach betont, „in schnee“ sei vom Kapitel „Schnee“ aus Thomas Manns „Zauberberg“ inspiriert. Dort kämpft sich der lungenkranke Hans Castorp durch einen furchtbaren Schneesturm, gelangt schließlich zu einem Heuschober, unter dessen Dach er zu halluzinieren anfängt – über die Welt und sich selbst. Im Tanzstück aber gibts fast keinen Schnee. Er erscheint nur in gelegentlichen Videoaufnahmen, bewusst stümperhaft gedreht. Das verwirrt.

Und der Tanz? Hans Castorp (der bärtige Daniel Jaber) ist bei Schlömer in Interviews zu C. geworden und hat im Programmheft seinen Namen ganz verloren. Ein Anonymus. Er trägt auch keine Skiausrüstung mehr wie bei Thomas Mann, sondern einen schwarzen Mantel, schwarze Hosen, weißes Hemd. Nur kurz kämpft er gegen die Naturelemente an (elektronisch erzeugte Geräusche) - breitbeinig balancierend, in wechselnder Schieflage. Dann hat er schon das Hausgerippe erreicht, beginnt unter dessen Dach zu fantasieren.

Zuerst sucht ihn eine langhaarige Frau in violettem Kleid heim (Paea Leach), umgarnt ihn, schlüpft unter seine Kleider, steckt das Bein in den Mantelärmel und die Hand in seine Hose – eine Art „Guerra d’Amore“ (so hieß ein Tanzstück von Schlömer zu Monteverdi-Musik, kreiert in Basel, wo er 1996-2001 das Tanztheater leitete). Dann tauchen weitere Figuren aus persönlichem oder kollektivem Gedächtnis auf, ein sportliches junges Mädchen, ein Mann in rotem Anzug, ein alterndes Paar (Su-Mi Jang, Clint Lutes, Maria Pires, Thomas Jeker). Sie bewegen sich in fliegendem Wechsel auf den Protagonisten zu, von ihm ab, durch ihn hindurch. Kontakt-Improvisation herrscht vor. Konzentriertes Körperbewusstsein, Wandlungsfähigkeit in Stil und Ausstrahlung sind gefordert - und werden von den Tänzerinnen und Tänzern auch erbracht. Schlömer hat sie von der Gruppe pvc Tanz Freiburg-Heidelberg mitgebracht, die er zurzeit koordiniert. Das Stück ist auch in Koprodukion mit dem Grand Théâtre de la Ville in Luxemburg und dem Théâtre de la Monnaie in Brüssel entstanden, wo „in schnee“ später ins Programm kommt.

Zurück zur Uraufführung in Luzern. Der intensive Tanz, das Wühlen der Musik, der ständig sich verändernde Charakter der Mitwirkenden und des Bühnenbildes (Mascha Mazur) rauben einem allmählich Sinn und Verstand. Man ist richtig froh, dass die Tanzenden eine Zeitlang in einem großen Foto verschwinden, durchs Auge ins Hirn steigend. In der technisch besonders anspruchsvollen 6. Suite beherrscht der Cellist die Bühne dann fast allein. Die Tanzenden schrumpfen zu Pappfiguren. Großartig. Verwirrend.

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