Irrgarten von Liebe und Tod

Joachim Schlömer inszeniert „Die Entführung aus dem Serail“

Luzern, 16/09/2008

Der Choreograf und Tänzer Joachim Schlömer liebt die Oper, hat in dieser Sparte schon häufig Regie geführt. Seine jüngste Inszenierung von Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ bringt fünf Sängerinnen und Sänger und ebenso viele Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne. Dazu spielt wunderbar vielschichtig das Freiburger Barockorchester unter Attilio Cremonesi. Die vom Publikum zuerst mit Skepsis verfolgte, am Schluss aber begeistert applaudierte Aufführung hatte am KKL Luzern im Rahmen des Lucerne Festivals Premiere, das sich dieses Jahr auch dem Tanz geöffnet hat. Weitere Aufführung folgen u.a. in Freiburg und St. Pölten.

Der 46-jährige Schlömer war neben dem Oboenvirtuosen Albrecht Mayer zum Artiste Etoile am Lucerne Festival berufen worden. Das gab ihm die Chance, ein paar Wochen vor der „Entführung“ auch das Tanzstück „in schnee“ zur Uraufführung zu bringen. Auf der Basis von allen sechs Suiten für Violoncello Solo von J.S. Bach – live gespielt von drei Cellisten.

Das traditionell von der Musik, nicht vom Tanz euphorisierte Festival-Publikum im KKL Luzern war bei der Premiere von „Entführung aus dem Serail“ zunächst befremdet. Was sollten diese fünf Gestalten, die zwischen und auf den zwölf Garderobekästen des Bühnenbildes herumturnten, ebenso kraftvoll wie lautlos? Sie tragen die gleiche Kleidung und eine ähnliche Frisur wie die Sängerinnen und Sänger, agieren aber nicht immer mit ihnen zusammen, sondern konterkarierten sie auch. Etwa dort, wo das Liebespaar Konstanze und Belmonte in ihrem herzzerreißenden Duett „Meinetwegen sollst du sterben“ den befürchteten Tod beklagen, während das entsprechende Tanzpaar sich grob herumbalgt. Und immer wieder führt die eine Gruppe die andere am Seil herum oder spannt behindernde Fäden in die Gegend.

Schlömer, Melancholiker und Grübler seit je, verschiebt die Akzente in der Oper des 26-jährigen Mozart. Die Geschichte von Belmonte, der seine von Piraten entführte Geliebte Konstanze samt ihrem Dienerpaar Blonde/Pedrillo im türkischen Serail von Bassa Salim aufspürt und am glücklichen Ende nach Europa zurückführen darf – diese vorwiegend heitere Singspiel-Geschichte vertieft und belastet der Regisseur mit weiteren Aspekten des Begriffs „Entführung“. Wie verändern sich Menschen, die eine Entführung erlebt haben? Wie wirken sich die Machtverhältnisse zwischen Tätern und Opfern aus? Ist ein Happy End nach einer Entführung überhaupt möglich? Was, wenn sie im Tod endet? Maßgebend war für Joachim Schlömer unter anderem das Buch „Im Keller“, das der Hamburger Jan Philipp Reemtsma nach seiner 33 Tage dauernden Entführung über seine Gefangenschaft 1996 geschrieben hat.

Zur Zeit (40 Jahre nach der 68er-Bewegung) wird auch häufig an die Entführungen durch die RAF-Terrororganisation in Deutschland erinnert; ferner hat man die Befreiung von Ingrid Betancourt aus der Gefangenschaft der Farc-Rebellen in Kolumbien erlebt. In Schlömers „Entführung“ werden auch solche Szenen angedeutet. Etwas übertrieben dort, wo zwei schwer bewaffnete Männer auftreten: In der Verkleidung stecken der blutrünstige Serail-Wächter Osmin und der oberste Chef, Bassa Salim himself. Er, der sich im Opernlibretto vom Rächer zum edlen Weisen entwickelt, spielt in Schlömers Inszenierung eine andere Rolle: Er ist quasi Versuchsanordner des Experiments „Entführung“.
Und da soll man noch Gefallen finden an Mozarts derart beschwerter Oper? An diesem zum Nachtstück mutierten Singspiel? Man findet ihn, den Gefallen! Die Sängerinnen und Sänger sind erstklassig und haben sich mit ihren tanzenden – nein, nicht Schatten, sondern plastischen Verkörperungen und Alter Egos verschworen. Die Doppelbesetzungen überzeugen durchweg: Konstanze (Robin Johannsen, Sopran, mit Alice Gartenschläger), Belmonte (Johannes Chum, Tenor, mit Graham Smith), Blonde (Lini Gong, Sopran, mit Murielle Elikzéon), Pedrillo (Eberhard Francesco Lorenz, Tenor, mit Clint Lutes) sowie Osmin samt haarigem Pferdeschwanz (Raphael Sigling, Bass, mit Tommy Noonan). Sehr schillernd wirkt die Sprechrolle des Bassa Salim, gespielt von einer Frau in Halbmaske (Marianne Hamre). Mit junger Hexenstimme zitiert sie nicht nur die Texte von Bassa Salim, sondern auch die Dialoge der andern Mitwirkenden.

Das Freiburger Barockorchester improvisiert während dieser Sprechpartien zusammen mit dem Perkussionisten Murat Coskum. Es vollbringt das Wunder, Mozarts Musik nicht nur an der heiteren Oberfläche gerecht zu werden, sondern auch in der Tiefe auszuloten. Zahllose optische Reize bietet das Bühnenbild von Jens Kilian: Manchmal öffnen sich die Garderobekästen, dann sieht man darin wie in einem Aquarium vier fast nackte Tanzende herumschwimmen. Und wenn diese wieder auf „Festland“ sind, werden ihre verschlungenen Gänge auf der Bühne von einem grossen Spiegel wieder gegeben. Dann kann man ihre Stürze auf den Boden, ihr Herumirren, Rutschen, Springen und sich Ineinander-Verschlingen gleich doppelt sehen. Ein Panoptikum.

 

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