Trug der Teufel womöglich Spitzenschuhe?

Die vierte Vorstellung: „100 Jahre Ballets Russes“

oe
München, 29/12/2008

Was für gläubige Muslims der Besuch der Kaaba von Medina und für den gottesfürchtigen Katholiken die Teilnahme an einer Messe im römischen Petersdom ist, das ist für den bekennenden Ballettfan das Erlebnis einer Vorstellung des Mariinsky-Balletts aus St. Petersburg. Deshalb die große allgemeine Enttäuschung über die Zemlinsky-Produktion beim jüngsten Gastspiel der Petersburger in Baden-Baden. Und das insbesondere wegen der speziellen Affinität St. Petersburgs und Wiens (als Wirkungsort von Zemlinsky) im Zeichen des Jugendstils des Fin de siècle. Der vorhersehbare Misserfolg dieser Produktion – der gleiche Choreograf Kirill Simonov, der schon den total verunglückten Petersburger „Nussknacker“ mit dem Maler Schemjakin auf dem Gewissen hat – lässt nicht nur danach fragen, wieso es überhaupt zu dieser Einladung nach dem Flop der Premiere kommen konnte, sondern ließ – bei mir – den Verdacht aufkommen, dass der Teufel höchst persönlich seine Hand im Spiel gehabt haben könne. Ist ja auch gar keine so abwegige Spekulation, den Teufel als Protagonisten eines Spektakels im Mariinsky-Theater zu sehen, erinnert man sich an seine diesbezüglichen Aktivitäten im sowjetischen Kultroman „Der Meister und Margarita“ von Michail Bulgakow (alias „Der Teufel trägt …“ – nicht Prada und auch nicht Prawda, sondern Spitzenschuhe).

Also entschloss ich mich an diesem Abend – simultan mit der Baden-Badener Final-Gala der Petersburger – zu einer Teufels-Austreibungsaktion – und zwar in München, der vierten Vorstellung des „100 Jahre Ballets Russes“-Programms. Sie wurde ein voller Erfolg. Ein restlos ausverkauftes, hingerissenes Haus, das Bayerische Staatsorchester unter Valery Ovsiankov in konzertreifer Kondition, dass Bayerische Staatsballett mit seinen Solisten und dem Corps de ballet in Hochform – und dazu das anspruchsvolle Programm mit „Shéhérazade“, „Les Biches“ und „Once Upon an Ever After“. Das war also sozusagen der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben: ein Exorzismus der etwas anderen Art. Und er gelang – wenn ich auch zugeben muss, mir an diesem Abend „Shéhérazade“ geschenkt zu haben: erstens gehört dieser Fokine ohnehin nicht zu meinen Favoriten, und zweitens reichen meine physischen Kräfte heutzutage nicht mehr für einen dreiteiligen 190-Minuten-Abend.

Ich wollte mich stattdessen ganz auf Nijinska und Kohler konzentrieren. Und habe an diesem Abend – drei Tage nach dem Desaster von Baden-Baden – meinen Glauben an das klassische Ballett aufs Neue bestätigt gefunden. Jawohl: ich glaube nach wie vor an das klassische Ballett – allen Abwerbungsversuchen durch die Lobbyisten des „Tanztheaters“ zum Trotz! Nijinskas „Les Biches“ also: der beste Import der bisherigen Spielzeit! Eine einzige sonnentrunkene Charme-Offensive. Von den Bayern mit so viel leichtgewichtigem Witz, augen- und fußzwinkernder Chuzpe getanzt, dass man aus dem Schmunzeln gar nicht herauskommt – von den sexy Cote-d'Azur-Lolitas wie von den drei Beefcake-Boys. Diesmal in etwas anderer Besetzung, mit Lisa-Maree Cullum als perlenschwingender Hausdame und Ivy Amista als mokant-androgynem Pagen im blauen Samtwams, dazu die beiden kirchernden, gar nicht graumäusigen tanzenden Teenies Maira Fontes und Elena Karpuhina. Und weiter Alen Bottaini, Matej Urban und Mohammed Youssry als die Drei von der erotischen Tankstelle.

Also ich hätte nichts gegen ein gleich anschließendes Dacapo gehabt! Und dann also Kohler zum Zweiten, von dem ich nach wie vor überzeugt bin: ein Youngster, der die Klassik mit der Muttermilch eingesogen hat – noch nicht so sophisticated wie Wheeldon, nicht so vielseitig wie Schläpfer – aber ein Theatraliker par excellence. Erst jetzt ging mir das ganz unglaubliche Raffinement von Rosalies Rauminstallation auf, deren ständige Verwandlung durch die geradezu choreografische Beleuchtungsregie. Diese überwältigende Bilderpracht mit den Glitzerbäumen, diese sternfunkelnden nächtlichen Visionen … Und das alles eingebunden in den choreografischen Fluss mit seinen subtilen Anspielungen, die jedem Zuschauer genug Freiraum lassen, seine Gedanken darin herumspazieren zu lassen, sich einzulassen auf Giselle (Cullum) und Albrecht (Bottaini), Myrtha (Emma Barrowman), Stephanie Hancox und Gregory Mislin (Aurora und Désirée) nebst Odette (Lucia Lacarra), auf Rotbart (Vincent Loermans), Odile (Karpuhina) und Siegfried (Marlon Dino) nebst den vier Dream-Boys, wie sie sich wohl Tschaikowsky in seiner erotischen Fantasie vorgestellt hat. Zemlinsky und Baden-Baden sind mit dem Jahr 2008 abgehakt – München lässt mich hoffen, dass 2009 trotz Finanzkrise ein gutes Ballettjahr werden möge!

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