Pipifax - Tanze, Rosetta, tanze

Ein groteskes Missverständnis: Christian Spucks „Leonce und Lena“ nach Büchner in Essen

Essen, 28/04/2008

In Georg Büchners erst lange nach seinem Tode uraufgeführtem, missverständlicherweise als „Lustspiel“ bezeichnetem „Leonce und Lena“ tanzt nur eine Figur: des Prinzen „liebe Langeweile“ Rosetta, auch sie eher todestrunken als lebenslustig: „O meine müden Füße ihr müsst tanzen/In bunten Schuhen,/ Und möchtet lieber tief, tief/ Im Boden ruhen“.

Im Essener Aalto-Theater lässt der in Marburg geborene, in Stuttgart groß gewordene Choreograf Christian Spuck gleich Büchners gesamtes Lustspiel-Personal zum Tanzen antreten, und obwohl er sich in vielen Szenen alle Mühe gibt, Büchners Handlung, wenn auch nicht seine Texte, eins zu eins in Bewegung umzusetzen, entsteht daraus nichts als ein großes Missverständnis; aus der todestrunkenen Melancholie des jung gestorbenen Dichters fertigt Spuck eine trunkene Karnevalsfarce. Das Dilemma liegt in der Sache selbst. Szenen wie die, in der König Peter, sein Hofstaat und sein Volk angetreten sind, die nicht vorhandenen Leonce und Lena zu vermählen, und in ihrer Hilflosigkeit beschließen, „wir feiern die Hochzeit in effigie“, trauen also irgendwelche Dahergelaufenen anstelle der eigentlich Gemeinten, lassen sich nicht eins zu eins in Bewegung übersetzen; tatsächlich ist diese Szene wie die meisten anderen in Büchners Stück überhaupt nicht übersetzbar in die Sprache des Tanzes.

Spuck versucht es, wo immer es halbwegs geht; wo es nicht geht, flüchtet er in die gängigen Versatzstücke seines Mediums. Ein gutes Beispiel für eine versuchte Eins-zu-eins-Umsetzung ist gleich die erste Szene. Leonce, der Prinz und Thronerbe des Mini-Königreichs Popo (Tomàs Ottych), lümmelt sich, von einer Pose der Langeweile zur nächsten wechselnd, ausgiebig am Boden. Hinter ihm ziert sich in Frack und Perücke ein Automaten-Mensch: der Hofmeister. Der Narr Valerio (Denis Untila), der den Prinzen auf seiner Flucht vor der Hochzeit mit Lena, Prinzessin vom Reiche Pipi, begleiten wird (und im Unterschied zum schwarz betuchten Prinzen in kariertes Tuch gehüllt ist), betritt die Bühne nicht einfach. Er besteigt sie, hinwegkraxelnd über jene graue Mauer, welche die Bühnen- und Kostümbildnerin Emma Ryott als wesentliches szenisches Element auf die Drehbühne gestellt hat.

Das Marionettenhafte, das viele Interpreten in den Figuren von „Leonce und Lena“ erkennen wollen, ist auch das vorherrschende Stilprinzip von Stucks Choreografie. Die Tänzer des Aalto Ballett Theaters bewegen sich bei Spuck beinahe durchweg wie Automaten, und wenn sie – nicht zuletzt bei der Begegnung von Leonce und Valerio mit der wie sie auf der Flucht befindlichen Lena (Ludmila Nikitenko) und ihrer Gouvernante (Alena Gorelcikova) – ihr Zappeln und Zucken zugunsten normaler tänzerischer Bewegungsabläufe aufgeben, soll der Zuschauer offenbar schließen, dass die Liebe aus den Marionetten Menschen gemacht hat.

Tatsächlich aber überführt Spuck seine Figuren nur aus einem Klischee in ein anderes: das der Schnulze. Dazu gehört, dass er auch für den Topf Valerio ein Deckelchen findet: Lenas Gouvernante ist in Essen jung und fesch statt alt und todesnah („Jetzt sterb ich ruhig“, sagt sie bei Büchner, als sie das seltsam traurige Happyend erlebt); tatsächlich ist ihre Darstellerin die attraktivste unter den Tänzerinnen der Aufführung. Das Missverständnis beginnt bereits mit der Musik, so flott sie Florian Ziemen am Pult der Bergischen Symphoniker auch herunterspielen mag.

Spuck und seine Dramaturgin Esther Dreesen haben etwas Schnittke mit einer Prise Bernd Alois Zimmermann sowie Delibes und Ponchielli vermengt, dazu Eartha Kitt und Hank Cochran aus Leonces tragbarem Ghettoblaster gefügt, dieses Fundament aber mit vielen zündenden Melodien aus der Werkstatt der Wiener Strauß-Dynastie zementiert, wo es, wenn schon, Offenbachscher Satire bedurft hätte. Das führt dazu, dass das getanzte Stück um den Prinzen von Popo und die Prinzessin vom Reiche Pipi zwar spritzig, aber ohne den mindesten Tiefgang daherkommt: nur Pipi, kein Popo, nur Seichtes, keine Substanz – und damit offenbar genau das, was das Publikum von heute erwartet. In der Premiere war viel Jubel zu hören, zwischendurch und am Ende.

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