Informative Rückschau

John Neumeiers große Werk-Retrospektive „In Bewegung“ als Buch und acht historische Ballett-Werkstätten aus 1977 und 1981 als DVD

Hamburg, 15/09/2008

Dieses Buch eignet sich nicht als Bettlektüre, und auch auf dem Sofa hat man so seine Schwierigkeiten, es zu halten: knapp 5 Kilo wiegt der großformatige Band „In Bewegung“, den John Neumeier innerhalb der vergangenen Jahre für die Collection Rolf Heyne erstellt hat. Man legt ihn am besten auf einen stabilen Tisch, besorgt sich etwas Schönes zu trinken und beginnt zu schmökern. Es ist ratsam, den Nachschub in Reichweite zu stellen – so schnell kommt man von diesem Wälzer nämlich nicht mehr los, wenn man mal angefangen hat, sich hineinzuvertiefen.

Dieses Buch spiegelt auf 576 Seiten 34 Spielzeiten des Hamburg Ballett (1973/74 bis 2004/05) anhand von Briefen, persönlichen Kommentaren aus heutiger Sicht, Tagebuch- und Werknotizen John Neumeiers sowie zahllosen Fotos, an denen man einmal mehr die handwerkliche Souveränität und das künstlerische Einfühlungsvermögen des Hausfotografen des Hamburg Ballett, Holger Badekow, bewundern kann.

Den Anfang macht ein Briefwechsel zwischen Kurt Peters vom Deutschen Tanzarchiv und John Neumeier aus dem August 1972 über den seinerzeit scharf kritisierten Einstand des 31jährigen neuen Ballettdirektors in Hamburg mit sage und schreibe 16 Nicht-Verlängerungen für Tänzerinnen und Tänzer über die laufende Spielzeit 1972/73 hinaus. Neumeier schlägt Feindseligkeit entgegen, auch stehen die Hanseaten dem Ballett eher reserviert gegenüber – Oper war damals eindeutig die wichtigere Sparte. Neumeier jedoch stellt sich seinem Publikum und erfindet schon zu Beginn der ersten Spielzeit die „Ballett-Werkstatt“, eine sonntägliche Matinée, viermal in jeder Saison. Als er dort am 9. September 1973 mittendrin nicht mehr weiß, was er sagen wollte, und dies vor den 1680 Zuschauern offen eingesteht, ist das Eis gebrochen – es ist der Beginn einer intensiven Liebesbeziehung zwischen dem Hamburger Publikum und dem Ballettdirektor und späteren Ballettintendanten, die bis heute fortbesteht und 2007 in der äußerst selten verliehenen Ehrenbürgerschaft gipfelte.

Wie sich diese Beziehung im Zusammenhang mit Neumeiers Schaffen über die Jahre hinweg entwickelt, zeigt dieses Buch. Und man erfährt viel von dem, was Neumeier im Rahmen seiner Arbeit bewegt, was er sich zu den Stücken denkt und gedacht hat – eine Fundgrube für alle, die sich mit dem Werk eines der bedeutendsten Choreografen unserer Zeit beschäftigen wollen. Dass Neumeier dieses wichtige Buch der großartigen Tänzerin und heutigen Pädagogischen Leiterin und stellvertretenden Direktorin der Ballettschule, Marianne Kruuse, gewidmet hat (mit den Worten „For Marianne – inspiration from the beginning, critical believer, faithful friend“), ist eine besonders schöne Geste.

Mindestens genauso aufschlussreich ist die Dokumentation von insgesamt acht Ballett-Werkstätten, die Neumeier 1977 und 1981 für die ARD im Studio Hamburg aufgezeichnet hat. Es sind insgesamt drei DVDs mit stattlichen 530 Minuten Laufzeit, mit den Themen „Mythos und Schweiß“, „Von der Technik zur Rolle“, „Optische Dramaturgie: „Die Handlung als Tanz“, „Das Symphonische Ballett“ (Serie 1977) sowie „Auf Spitze“, „Der Mann tanzt“, „Pas de deux – wortloser Dialog“ und „Musik und Ballett“ (Serie 1981).

In den ersten vier Filmen erkennt man noch den sehr von sich selbst überzeugten, ungeduldigen, recht herrischen Ballettdirektor und Choreografen, der ständig erklärt, gestikuliert, mit hochkonzentriertem Ernst sein tänzerisches Anliegen erläutert. Vier Jahre später ist diese fast hektische Hast einer größeren Ruhe gewichen – Neumeier hat an Selbstbewusstsein gewonnen, muss sich nicht mehr ständig beweisen, erklärt, definiert wesentlich sparsamer. Noch berührender und kontrastreicher wird dieser Vergleich, wenn man beide Serien mit der Einführung aus heutiger Sicht vergleicht, die Neumeier zu Beginn der ersten DVD gibt – da ist er der reife Choreograf von heute, souverän, gelassen, mit jung gebliebenem Charme und liebenswürdigen Unsicherheiten, wenn man ihm das Lampenfieber ansieht, das er immer noch hat, bevor er vor sein Publikum tritt – auch vor das virtuelle. Und ein Übriges tut der Bonus-Track, eine 45-minütige Dokumentation des NDR über Neumeiers Schaffen aus dem Jahr 2002.

Die Filme sind aber auch ein bewegendes Wiedersehen mit den Hamburger Tanzstars von gestern – Lynne Charles, Marianne Kruuse, Magali Messac, Colleen Scott, Beatrice Cordua, Kevin Haigen, Gamal Gouda, Max Midinet, Truman Finney, Roy Wierzbicki, François Klaus, Victor Hughes, Ivan Liška, Eduardo Bertini. Einige von ihnen sind den Hamburgern zum Glück als Ballettmeister erhalten geblieben. Für alle Freunde des Hamburg Balletts sind diese DVDs ebenso aufschlussreich und empfehlenswert, wie für Ballett-Fans generell – denn was Neumeier hier über den Tanz nahebringt, reicht weit über seine eigene Arbeit hinaus und ist wertvolles Anschauungsmaterial für ein besseres Verständnis des Balletts generell.

John Neumeier: In Bewegung, Collection Rolf Heyne, 576 Seiten, 135 Euro John Neumeiers Ballettwerkstatt, 3 DVDs, 39,95 Euro (zu bestellen bei www.ardvideo.de).

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