Griechisch-römische S-Kurve

Der Rausch von Farben und Formen in den Ballet Russes

München, 06/12/2008

„Hundert Jahre Ballets Russes“! Was die russische Truppe des Impresarios Serge Diaghilew (1872-1929) am 18. Mai 1909 im Pariser Théâtre du Châtelet zur Aufführung brachte und avantgardistisch kühner noch in den folgenden Pariser Saisons, war die ungestüm sich ankündigende Moderne. Morgen in der Premiere des Bayerischen Staatsballetts kann man sich zurückträumen zu dieser Aufbruchszeit des modernen Balletts.

Was genau nun war so neu, so revolutionär? Diese Ballets Russes, die dann international, 1912 auch in München, bejubelt wurden, hielten den Stil des führenden Choreografen des St. Petersburger Marien-Theaters Marius Petipa für überholt. Petipa-Ballette erzählten zwar eine Geschichte, aber noch in der herkömmlichen Form einer Reihung von solistischen und Ensemble-Nummern. Wobei manche Nummern, ohne Bezug zum Inhalt, rein virtuos tänzerischen Charakter hatten. Jetzt hieß das künstlerische Konzept: Bedeutung tragendes Gesamtkunstwerk.

Während die traditionellen Ballette größtenteils in bombastischen Zuckerwatte-Ausstattungen zu meist gefälligen Taktgeber-Musiken stattfanden (mit Tschaikowsky als Ausnahme), vereinte Diaghilew für seine Produktionen exquisite Tänzer – Waslaw Nijinsky war der Star der Epoche – , risikofreudige Choreografen, überhaupt die Avantgarde-Künstler seiner Zeit: Igor Strawinsky, Maurice Ravel, Claude Debussy, Eric Satie, Serge Prokofjew und Francis Poulenc und andere große Namen komponierten für ihn; Maler wie Alexandre Benois, Léon Bakst, Nicolas Roerich, Picasso und Matisse entwarfen, der damaligen Jugendstil-Euphorie und den exotischen Libretti entsprechend, farbüppige Landschaftsprospekte und fantastische Kostüme. Um diesem Rausch von Farben und Formen volle Wirkung zu lassen, blieb die Bühne leer. Ein Sessel, ein Kanapee sollte Ballsaal, Boudoir oder Park evozieren. Auch das war damals eine kleine Revolution.

Die Einheit von Handlung, Musik, Malerei und tänzerischer Bewegung hatte schon 1904 der gegen Marius Petipa aufmuckende 24-jährige Michail Fokine gefordert. Im Sinne der dramatischen Wahrhaftigkeit wurde der männliche Tänzer, bis dahin degradiert zum „Ballerinen-Stützer“, wieder tänzerisch gleichberechtig. Und Fokine stellte dringliche Fragen wie „Warum macht ein Tänzer schwierige Schritte, wenn sie nichts ausdrücken?“ Beeinflusst von den freien Bewegungen der amerikanischen Ausdruckstänzerin Isadora Duncan, erlöste er den Oberkörper aus seiner senkrechten Starre. Die nach klassischem Kodex streng geführten Arme durften bei ihm schweben, in der Musik atmen, Gefühle mitteilen.

Ein schönes Beispiel für Fokines Stil ist das über die Ballettomanen-Welt hinaus bekannte Solo „Der sterbende Schwan“ für Anna Pawlowa von 1907. Als Chefchoreograf der Ballets Russes kreierte Fokine 1910 „Shéhérazade“. Diese glühende Eifersuchtsintrige um eine Harems-Lieblingsfrau zu Musik von Rimski-Korsakow, hat die Enkelin Isabelle Fokine rekonstruiert und jetzt im Staatsballett einstudiert. Sinnlich geschwungene Körperlinien (Fokine liebte die S-Kurve der griechisch-römischen Statuen) und die farbsatten orientalischen Gewänder, Schleier und Turbane, realisiert nach Baksts Original-Entwürfen, werden im Münchner Nationaltheater die Ära der Ballets Russes beschwören. Von Diaghilews anderer Choreografie-Koryphäe Bronislawa Nijinska, Schwester des Tänzers Nijinsky, kommt das Ballett „Les Biches“ (1924) zu Musik von Poulenc zur Aufführung. Dazu die Uraufführung „Once upon an ever after“ (“Es war einmal in alle Ewigkeit“) des jungen Australiers Terence Kohler, ein Streifzug durch Ballette des 19. Jahrhunderts als Summe der Sehnsüchte und Träume dieser Ballettvergangenheit.
 

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