Gregor Zölligs Tanztheater „Struwwelpeter“

Wenn der bitterböse Friederich groß wird

Bielefeld, 12/02/2008

Wenn Struwwelpeter, Suppenkaspar, Paulinchen und der bitterböse Friederich groß werden, halten sie sich erst Recht nicht an die „überlebenswichtigen Regeln“, die der Berliner Kinderarzt Dr. Heinrich Hoffmann seinem Neffen 1843 mit seinem „Struwwelpeter“-Bilderbuch auf den Weg gab. Wichtiger als pädagogische Maßnahmen und Bestrafung seien Respekt für jeden Mitmenschen, Manieren und eine gesunde Lebensweise. In mehr als 40 Sprachen übersetzt, ein Renner als Comic, Schauspiel und Oper, sind die grausamen Familien-Szenen heute populärer als je. In Deutschland hat vor allem die makaber witzige Junk-Oper „Shockheaded Peter“ der englischen Band „Tiger Lillies“ den Kinderbuchklassiker neu ins Bewusstsein gerückt. Alle Songtexte enden mit demselben Refrain: „...war er/sie TOT“.

Bielefelds Tanztheaterchef Gregor Zöllig konterkariert sieben der gereimten Bildergeschichten mit Episoden, die seine Tänzer aus ihrer Kindheit erinnern, und Szenen von heutiger Gewalt auf der Straße, Vergewaltigung, dröge drakonischem Schulalltag, Ehekrach und falsch verstandener Elternliebe, hinter der ein verbitterter Machtkampf zwischen Vater und Mutter schwelt – bis das Kind sich als Suppenkaspar verweigert. Der Daumenlutscher befriedigt seine Sehnsucht nach Geborgenheit längst nicht mehr durch das Saugen am Finger, sondern pubertiert heftigst – heimlich, denn sexuelle Fantasien und Fummeleien am eigenen Körper sind schon gar nicht erlaubt. Eine Boy Group kontert gerade diese Prüderie und provoziert einen Mann aus dem Premierenpublikum derart, dass er laut schimpfend auf die Bühne stürmt und die Boys zusammenschlägt, um dann triumphierend auszurufen: „Siehste – geht doch!“ Glücklicherweise entpuppte er sich als Mitspieler. Aber den Zuschauern blieb das heitere Lachen im Hals stecken.

Dass dieses Tanztheater erst für Zuschauer ab 12 Jahren empfohlen wird, macht durchaus Sinn. Kinder müssen sich aber nur noch ein Weilchen gedulden: Das Laienprojekt zum selben Thema wird auf Fotos im jetzigen Programmfaltblatt schon ankündigt. Premiere ist Ende Mai.

Begleitet wird die 100-minütige, pausenlose fetzige Bilderflut von einer vierköpfigen Band auf der Bühne, die Songs aus „Shockheaded Peter“ und neu komponierte Struwwelpeter-Lieder vom musikalischen Leiter Patrick Schimanski spielt und teilweise singt. Die Tänzer überraschen als klasse Chor. Solistisch tun sich vor allem Dirk Kazmierczak und Anna Eriksson hervor. Witz bringt der Italiener Gianni Cuccaro mit. Durch Ausstrahlung und Schwung fällt Miranda Hania auf und Brigitte Uray durch darstellerische Vielseitigkeit. Ein bisschen weniger Worte – zumal in langen fremdsprachigen Dialogen – wäre zu wünschen (Pina Bausch der ersten Wuppertaler Jahre lässt viele Male grüssen). Aber die Ovationen des Publikums zeigten: Gregor Zölligs Tanztheater ist in Bielefeld „Kult“ - wie ehedem Opernausgräber John Dew.

 

Nächste Vorstellungen: 14., 17. und 21.02. - Karten: 0521-515454

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