Fein gesponnen

Gäste aus Moskau in „Die Möwe“ bei den Balletttagen

Hamburg, 06/07/2008

Welch ein Wirwarr an Gefühlen: Kostja liebt Nina, Nina liebt erst ihn, dann Trigorin, der liebt Irina, aber auch andere Frauen und sich selbst, wie Irina, die ihren Sohn Kostja nicht zu lieben vermag, Polina liebt Jewgenij, vermag sich aber nicht von ihrem Mann Ilja zu lösen, Mascha liebt unerwidert Kostja, sie wird unerwidert geliebt von Semjon, den sie aus Frust heiratet. Alles klar? Heinrich Heine fasst das normalste Chaos der Welt zusammen: „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.“ Am Ende ist keine(r) glücklich, vielleicht außer Trigorin.

Aus diesem Personal aus Tschechows Komödie „Die Möwe“ bedient sich John Neumeier, ordnet den Handlungsträgern der im Juni 2002 uraufgeführten Produktion allerdings zum Teil andere Berufe aus dem tänzerischen Bereich zu: Primaballerina Nina (statt Schauspielerin), Choreograf Trigorin (statt Schriftsteller), Tänzerin Nina, Jungchoreograf Kostja etc., Neumeier landet also logischerweise in der Tanzszene. Die Möwe, aus Papier gefaltet von Kostja am Beginn, verkörpert die Freiheitssehnsucht, sie fliegt nie wirklich auf, taumelt lediglich mal aus Schulterhöhe zu Boden. Neumeier setzt die beiden Welten „auf dem Lande - in der Stadt (Moskau)“ gegeneinander. Hier löchriges Idyll mit düsteren Wolken, dort oberflächliches Revuegewusel und Parodie des Klassischen Balletts („Schwanensee“, „Sylvia“ und sonst was gequirlt). Subtilste Gefühlsregungen, feinste atmosphärische Veränderungen, quasi zwischen den Bewegungen zu lesen, müssen die Tänzer aus dem choreografischen, stilistisch vielfältigen Material herausfiltern, damit es plastisches Leben gewinnt, die Charakteristika der Protagonisten herausholt. Eine Herausforderung für die Gäste aus dem Moskauer Stanislawsky-Ballett, denen Neumeier Hauptpartien anvertraut hat - eine bestechende Idee in Verbindung mit deren Auftritt bei den Balletttagen 2008: „Schwanensee“ am 8. und 9. Juli.

Tatjana Tschernobrowkina als Irina scheint mir als Mutter Kostjas zu jung, ihr gelingt der Balanceakt zwischen Form und tiefer gehendem Ausdruck nur zeitweise. Sie gibt die exaltiert manierierte Primaballerina mit abgeknickten Handgelenken (russische Schule?), schöner Linie und exakter Ausführung, lässt die kühle Oberfläche erst aufweichen im furiosen Pas de deux mit Trigorin (II. Akt). Um ihn zu halten, erniedrigt sie sich dermaßen verzweifelt vor ihm, dass ich an Jacques Brels „Ne me quitte pas“ denken muss: „Lass mich der Schatten deines Hundes sein“. Das rührt ans Herz.
Der hin und her gerissenen Nina, die als eine von vielen Tänzerin in der Revue wird, verleiht Valeria Mukhanowa eine faszinierende Mischung aus kraftvollem Tanz und scheinbarer Unsicherheit. Zweimal legt sie sich Trigorin im wahrsten Sinne des Wortes zu Füßen, beim zweiten Mal wird sie rigoros zurückgewiesen, dennoch geht sie schließlich mit entschlossenem Schritt in ihre Zukunft, verschmäht Kostjas Liebesangebot. Mukhanowa, ausgestattet mit hohem Sprung und klarer Platzierung, verliert ihre entschlossene Aura erst zeitweise in der motorisch hingefetzten Revueszene, als sie von Trigorin nicht erkannt wird und verloren verharrt. Der Tiefpunkt ihrer Laufbahn ist als beliebig austauschbares Showgirl unter schwarz-rot-gold gekleideten Kollegen erreicht.

Dimitry Khamzin füllt die ganze Bandbreite von Aufruhr und Schwäche des leicht verletzlichen Jünglings Kostja aus, aufgewachsen ohne sorgende Mutter, gefangen in seinem Weltschmerz und seinem Bemühen, als Künstler ernst genommen zu werden. Als Talentprobe serviert er auf dem Landsitz eine teils expressionistische Choreografie auf dem kleinsten Raum eines Podiums, die nicht vom Fleck kommt, aber Avantgarde sein will. Sein Ausbruch über die kalte Zurückweisung durch seine Mutter mündet in einen Selbstmordversuch mit der Pistole. Khamzin besticht mit jugendlicher Ausstrahlung und beherzter Attacke, wechselt fließend vom Tanz zu Stillstand, in dem er präsent bleibt, und zurück. Eine imponierende Leistung.

Und schließlich Trigorin: Leicht und locker tanzt ihn Georgi Smilewski, eher ein Gigolo als ein faszinierender Künstler, dem Frauen zu Füßen liegen. Gut lässt er den latenten Sadismus spüren, der in der Rigorosität des klassischen Balletts liegt, als er Nina unterrichtet, sie mit nur scheinbar sanfter Gewalt in die Form biegt. Aber: Kaum zu glauben, dass so einer für seine Karriere über Leichen geht. Den Kontrast dazu liefern die Hamburger Tänzer, die zu Hause sind im Idiom Neumeiers: Joëlle Boulogne als Mascha, Lloyd Riggins als Sorin, Peter Dingle als Lehrer Semjon und Barbora Kohoutková als Polina. Wie Boulogne den Pas de deux mit Semjon auflädt mit Zuneigung und Ablehnung, beim Kontakt zu Kostja zu implodieren und schließlich zu resignieren scheint, ist atemberaubend aus der Form heraus gestaltet. Nicht minder intensiv Dingle als von ihr unwillig erwählter Ehepartner und Riggins als Sorin, menschenfreundlicher Bruder Irinas. Obwohl stiefmütterlich von Neumeier mit hervortretenden Momenten bedacht, schafft Kohoutková das Kunststück, der Polina als sehnsuchtvoller, aber entscheidungsschwacher Frau Profil zu geben.

Schließlich verschwindet Kostja unter dem Podest, dem Ort seiner Niederlagen, seiner vergeblichen Anläufe zum choreografischen, künstlerischen Erfolg. Vorn sitzt im Dunkel ein Schattenriss-Quartett: Irina, Mascha, Sorin, Jewgenij. Das Segel im Hintergrund, Symbol des Aufbruchs zu neuen Ufern, hat sich längst schwarz verfärbt. Ende eines meist zart gesponnenen Abends, dem allerdings die Verdichtung fehlte, in dem Seelenqualen zu breit ausgewalzt wurden, um nachwirkend zu beeindrucken.

Mich hat es bis auf einige, erwähnte Ausnahme-Augenblicke ziemlich kalt gelassen. Geschickt hat John Neumeier die Musiken ausgewählt, unter anderem Schostakowitschs 15.Sinfonie, sein Streichquartett op.110 c-moll (von Rudolf Barshai für Streichorchester zu schwerfälliger Verdickung arrangiert), das Klaviertrio op.67 sowie Werke der Schlagzeugerin Evelyn Glennie (zu Kostjas Tanzstück „Die Seele der Möwe“), von Tschaikowsky und Skrjabin. Dirigent Markus Lehtinen leitet genau, bis auf ein paar Wackler musizieren die Philharmoniker präzis; mir fehlt die Schärfe, der grimmige Sarkasmus, die tiefer, quasi zwischen den Noten liegende Verzweiflung.

Link: www.hamburgballett.de

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