Eine feste Burg ist unser Martin

Philipp Egli, Antony Tudor und Martin Schläpfer im neuen Ballettprogramm

oe
Mainz, 02/03/2008

Die zweite Vorstellung, eine 14 Uhr-Matinee, des neuen Mainzer Programms – auf der Rückreise von Dortmund und Essen (wo wir bis zwei Uhr nachts die Verleihung des Deutschen Tanzpreises an John Neumeier gefeiert haben) nach Stuttgart. Wieder ein volles Haus (hoffentlich überdauert die neue Ballettbegeisterung der Mainzer die Migrationsabsichten ihres heißgeliebten Ballettchefs) – wieder uneingeschränkter Publikumsbeifall für die drei Ballette dieses „Programm XXVI“ – mit vollbesetztem Orchester unter der Leitung seiner Generalmusikdirektorin Catherine Rückwandt (was ja heute auch an unseren so genannten Elitehäusern durchaus nicht immer der Fall ist).

Ist 26 nun also wieder eine Glückszahl des ballettmainz? Wenn ich die Kritiken der verehrten Kollegen lese (eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, ich gebe es zu), ist sie sogar ein ausgesprochener Glücksfall: Jubel für Philipp Eglis „Contredanse“ zu ausgesuchten Rameau-Miniaturen, eine Art Party-Ballett à la „Rameau Goes Baroque“, flott und flapsig, mit ein paar Lustschreien garniert (genau wie die heute üblichen Kreischer der Teenager) – Antony Tudors „Jardin aux Lilas“, sein „Fliedergarten“ zu Chaussons Poème für Violine und Orchester aus dem Jahr 1936, die Abschiedselegie frustrierter jugendlicher Liebenden des damals gerade Achtundzwanzigjährigen, stiller, aber nicht weniger intensiv rezipiert – und am Schluss dann der neue Schläpfer, seine „Reformationssinfonie“ zu Felix Mendelssohn-Bartholdis Fünfter, die eigentlich seine Zweite ist, komponiert 1829/30, als er gerade dreißig war, „zur Feier der Kirchen-Revolution“, von Publikum und Kritik so enthusiastisch aufgenommen, als gipfelte sie nicht in dem bekannten Luther-Choral, sondern in der Mainzer Reformationshymne „Ein feste Burg ist unser Martin“ (wenigstens stimmt der zweimalige Martin!).

Meine Reaktion ist nicht so einhellig. Ich bekenne mich als einen ausgesprochenen Rameau-Fan, aber wie ihn Egli fragmentarisiert und skelettiert, wirkt er auf mich, als wenn man die Originalmusik durch den Fleischwolf gedreht und extra scharf nachgewürzt hätte. Ganz anders mein Einverständnis mit Tudors so ungemein zart und einfühlsam die Seelen junger Menschen sondierendes Poem – wie ein getanzter Roman von Jane Austen (wenn auch in ein edwardianisches Milieu verpflanzt). Vom Tudor-Spezi Donald Mahler mit viel Finger- und Fußspitzengefühl einstudiert, und vom Mainzer-Quartett der Kirsty Ross, Callum Hastie, Igor Mamonov und Julie Thirault nebst ihren Freunden und Verwandten wie eine ausgesprochen liebevolle Hommage an den im Vorjahr hundertjährigen choreografischen Kollegen des großen Sigmund Freud getanzt.

Ist mir schleierhaft, wie dieser so subtile choreografische Seelenanalytiker bei uns so unterschätzt wird. Für mich eindeutig der Haupttreffer dieses Programms – und zwar ganz direkt, ohne Zwischenschaltung des historischen Bildungs-Bewusstseins (wie etwa bei Petipas „Erwachen der Flora“). Wäre ja ganz schön, wenn Schläpfer in seiner Dernière dem Publikum und der Kritik Tudors „Dark Elegies“ zur Erinnerung brächte, dieses erste repertoirebeständige Mahler-Ballett, 28 Jahre vor MacMillans „Lied von der Erde“! Und dann also Schläpfers protestantischer Ballett-Anschlag im erzkatholischen Mainz! Der verursacht mir weniger choreografische als musikalische Skrupel – gleich zu Beginn mit dem Zitat des „Dresdner Amens“, das mich augenblicklich die Enthüllung des Grals à la „Parsifal“ (mein künstlerisches Hassobjekt Nummer eins) erwarten lässt. Kommt aber nicht – eher das Schwarze Corps der Mainzer (Kostüme Marie-Thérèse Jossen), die wie weiland die Schwarze Front des Otto Strasser über die Bühne jagen, die Männer in kraftgestählten Formationen, die Frauen wie Angehörige der Diana-Division. Durchaus beeindruckend, wie sich Schläpfer und seine Getreuen gegen diese Musik auflehnen, da bin ich ganz auf ihrer Seite (obgleich ich mich zu den Mendelssohn-Fans rechne) und wünschte mir lediglich, dass sich Schläpfer lieber (wie dazumal Hans van Manen) der „Lieder ohne Worte“ angenommen hätte.

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