Dunkle Träume vom Unvollendeten

Jiři Kyliáns Choreografie „Vanishing twin“ beim Nederlands Dans Theater

Den Haag, 08/02/2008

„Vanishing twin“ heißt Jiři Kyliáns jüngste Arbeit fürs Nederlands Dans Theater (NDT 1) in Den Haag. Der Choreograf hat an den Titel den Zusatz „an unfinished work“ angehängt, behauptet also, dass es sich um ein unvollendetes Werk handle. Aber das ist eine bewusste Mystifikation. „Vanishing twin“ (Verschwindender Zwilling) ist ein medizinischer Begriff , und Kylián versteht diesen Terminus aus der menschlichen Schwangerschaft, bei dem einer von zwei zunächst vorhandenen Fötussen aufhört zu atmen und schließlich ganz verschwindet, als eine Parabel für jene dunklen charakterlichen Seiten eines Menschen, „die wir an uns nicht akzeptieren oder vor anderen zu verbergen zu suchen“. So versucht er, nach eigener Aussage, „eine kleine Meditation über Zeit, Geschwindigkeit, Altern und alle unvollendeten Dinge“ und packt gleich noch eine ganze Menge anderer Fragen dazu.

Jiři träumt. Während das Publikum im Haager Lucent Danstheater – wo das NDT „Vanishing twin“ mit Mats Eks sechs Jahre altem, einstündigen „Fluke“ (also: „Dusel“) koppelt - Platz nimmt, ist die – von Kylián selbst entworfene – Bühne offen und in ein vages Zwielicht von einer beinahe auf den Boden herabhängenden Scheinwerfer-Batterie getaucht. Wenn die Scheinwerfer hochfahren, bleibt die Bühne noch lange Sekunden leer: ein grau changierender Raum mit einer großen konkaven Öffnung im Zentrum der Rückwand – zweifelsohne Symbol für jene Öffnung in der weiblichen Anatomie, aus der alles menschliche Leben zutage tritt. In dieser Öffnung wird sich, nur für einen kurzen Moment, ein nacktes Paar zeigen, das so nie auftreten wird; die drei Tanzpaare – Valentina Scaglia/Medhi Walerski, Lydia Bustinduy/ Miguel Olivera, Aurélie Cayla/Lukás Timulak – die die Besetzung von „Vanishing Twin“ bilden, tragen identische (von Joke Visser entworfene) Kleidung: beinfreie, grau changierende Trikots die Frauen, lange schwarze Hosen bei nackten Oberkörpern die Männer. Zunächst freilich sind, nachdem die ersten beiden harten Paukenschläge von Dirk Haubrichs Musik die Bühne gleichsam freigegeben haben, nur zwei der drei Paare auf der Bühne, und nur eines von ihnen ist wirklich in Bewegung.

Mit klassischem Ebenmaß hat deren Bewegung nichts mehr im Sinn. Kylián hat seine Tänzer in insektenähnliche Wesen verwandelt und lässt sie mit- und aufeinander herumturnen. Sie benutzen einander als Klettergerüste, ranken sich aneinander hoch und tauchen untereinander durch; zuweilen fühlt man sich an die Frühzeit der amerikanischen Kompanie „Pilobolus“ erinnert. Durch alle Turnerei schimmert eine erotische Grundierung. Immer mal wieder stecken die Männer ihre Köpfe zwischen die Beine der Frauen und heben sie so auf ihre Schultern. Arme und Beine der Tanzenden sind nur selten gestreckt, sondern werden in Knie- und Ellenbogengelenken abgeknickt. Eine entfernte Verwandtschaft zu jenem tänzerischen Idiom, das William Forsythe für sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt, hat ist unübersehbar; doch sprechen Kyliáns Bewegungen jederzeit eine sehr eigene, unverwechselbare Sprache, von Forsythe vor allem durch eine geringere Affinität zum Chaotischen unterschieden.

Haubrichs Musik entwickelt eine sanft minimalistische, zeitweise von einem Cembalo gespielte Kernmelodie, in die einzelne metallische Klänge und von den Tänzern mithilfe der tönenden Rückwand erzeugte Paukenschläge immer wieder harte Akzente setzen. Kyliáns Tänze unterlegt sie mit einem beinahe fernöstlichen Klangteppich, der dem Ganzen einen durchaus mystischen Anstrich verleiht.

Im Verlauf des Einakters von nur 25 Minuten Dauer holt Kylián vorübergehend sein gesamtes Ensemble auf die Bühne, bemüht sich aber auch dann, die Bewegung dünn und schlank zu halten: zwei tanzen, die anderen schauen zu oder setzen sachte, vereinzelte Kontrapunkte. Am Ende schickt der Choreograf zwei seiner drei Paare vorzeitig in die Kulissen. Aber auch das letzte Paar bleibt nicht beisammen. Während computergesteuerte Projektionen milchige Bilder auf die Rückwand malen, scheint die letzte Tänzerin in die Rückwand einzutauchen und mit ihr zu verschmelzen; ihr Partner steht vereinsamt im verdämmernden Bühnenlicht.

Auch diesmal wieder ist Jiři Kylián mit „Vanishing twin“ ein starkes, intensives Stück Tanz gelungen: Dem Zuschauer macht er es nicht gerade einfach; er hat eine Choreografie für Fortgeschrittene geschaffen. Ihre konkrete Aussage ist nicht ganz leicht zu entziffern; ein geheimnisvoller Rest bleibt - wie es sich für ein echtes Kunstwerk gehört - unauflöslich.


Link: www.ndt.nl

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