Den Lesern ein X für ein U vormachen

Die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet über John Neumeiers „Othello“

oe
Stuttgart, 29/04/2008

Wunder über Wunder! Ich traute meinen Augen kaum, als ich am Morgen nach der Stuttgarter „Othello“-Premiere in der Münchner „Süddeutschen Zeitung“ einen geradezu hymnischen Bericht „John Neumeier schenkt seinen ‚Othello‘ dem Stuttgarter Ballett“ las. Ausgerechnet in der „Süddeutschen“, sonst am Stuttgarter Ballett kaum sonderlich interessiert – und alles andere als eine bayerische Filiale des Hamburger Neumeier-Fanclubs! Wie denn das? Und sogleich begann meine zugegeben auch sonst sich leicht verselbstständige Fantasie Amok zu laufen. Hatte die Autorin (nein, nicht etwa E.-E. F, sondern eine Lady namens Dorion Weickmann, die ich bis vor kurzem noch für einen Schreibfehler gehalten hatte, eingedenk eines gewissen Dorian Gray) ihre Kritik in ihrem Turbo-Porsche, in der Nacht gen München rasend, in ihr Notebook getippt und sogleich nahtlos an die Redaktion übermittelt? Und sich damit für einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde qualifiziert?

Erst als ich ihren Report genauer las, fiel mir auf, dass darin wohl ausführlich von Neumeiers Shakespeare-Adaption in den „aufgelassenen Industriehallen am Rande der Hamburger City“ und ihren Akteuren, „Gamal Goudas leidenschaftlichem Othello, Gigi Hyatts liliengleicher Desdemona und Max Midinets hyänenhaftem Jago“ die Rede war, die Stuttgarter Protagonisten hingegen lediglich namentlich aneinandergereiht waren und die Stuttgarter Kompanie überhaupt nicht erwähnt wurde. Hatte die SZ-Lady überhaupt die Stuttgarter Aufführung besucht? Eine Nachfrage im Stuttgarter Pressebüro bestätigte, dass sich die SZ für die Premiere keineswegs angemeldet und offenbar auch keinen Kritiker entsandt hatte. Also ist der Bericht wohl auf Grund der Hamburger Produktion geschrieben worden – und mit gutem Grund ist mit keinem Wort auf den spezifischen Charakter der Stuttgarter Einstudierung und auf die enthusiastische Aufnahme durch das Stuttgarter Premierenpublikum eingegangen worden.

Natürlich kann man sich in München darauf berufen, dass der Artikel keineswegs behauptet, sich auf die Stuttgarter Produktion zu beziehen – es heißt dort ja auch lediglich „John Neumeier schenkt seinen „Othello“ dem Stuttgarter Ballett“ (wobei man sich fragt, ob er den Stuttgartern seinen „Othello“ wirklich geschenkt habe). Doch zu diesem Zeitpunkt, so unmittelbar nach der Stuttgarter Premiere veröffentlicht (und in München vermutlich zur Zeit, da die Stuttgarter Vorstellung noch im Gange war, schon am Abend der Premiere in der Ausgabe des nächsten Tages zu lesen), bezieht natürlich jeder Leser automatisch den Artikel auf die Stuttgarter Einstudierung. Wenn das keine journalistische Chuzpe (aus dem Jiddischen: für Dreistigkeit, Unverschämtheit) ist!

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