Das Original des Originals?

Anlässlich der Veröffentlichung einer „Giselle“-Notation aus den 1860er Jahren

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Stuttgart, 21/10/2008

Eine Sensation? Zumindest eine kleine! In seiner sämtliche Aspekte gründlich analysierenden Introduktion bringt es der Herausgeber Frank-Manuel Peter vom Deutschen Tanzarchiv in Köln genau auf den Punkt: „So manche Ballettliebhaberin im Zuschauerraum wäre vielleicht sehr überrascht über die Information, dass das, was sie seit vielen Jahren immer wieder gern auf der Bühne sieht, choreografisch gar nicht gesichert der ursprünglichen ‚Giselle‘ von 1841 entspricht. Wir sehen etwas, das wir gerne dafür halten wollen. Doch von der Uraufführungsfassung ist der weltweiten Forschung über die originale Musikpartitur (in Paris) hinaus nur ein in St. Petersburg aufbewahrter, dort 1842 zur Einstudierung benutzter ‚Répétiteur‘ bekannt, also eine handschriftliche Probenpartitur der Musik mit Anmerkungen, die den Handlungsverlauf – z.T. in wörtlicher Rede, im Sinne des Librettos dokumentieren. Eine Aufzeichnung der eigentlichen Choreografie existiert offenbar nicht.“

Was wir heutzutage für die originale Choreografie von 1841 halten, ist also die Summe der diversen St. Petersburger Einstudierungen von 1842, 1851, 1884 und 1887. „In den 167 Jahren seit seiner Uraufführung hat die Choreografie – allein schon wegen der persönlichen, nicht schriftlich fixierten – Tradierung – starke Veränderungen erfahren.“ Die Reihe der auf der Uraufführungsversion von 1841 beruhenden Pariser „Giselle“-Vorstellungen reißt Ende 1868 ab. Damals war Henri Justamant Chefchoreograf der Pariser Opéra, und von ihm stammt die Aufzeichnung, die jetzt als Faksimile-Druck im Georg Olms Verlag, Hildesheim 2008, erschienen ist: „Giselle ou Les Wilis, Ballet Fantastique en deux actes“. Ergänzt durch Therese von Artners „Der Willi-Tanz. Eine slawische Volkssage“ aus dem Jahr 1822. Eine Publikation des Deutschen Tanzarchivs Köln / SK Stiftung Kultur, 236 Seiten, 78,00 €, ISBN 978-3-487-13830-5.

Es ist ein mustergültiger Band geworden, über 200 Seiten, in handschriftlicher französischer Aufzeichnung: die Distribution der Tänzer auf der Bühne, die Beschreibung ihrer Choreografie und ihrer Aktionen, dazu Zeichnungen und Wegskizzen. Das dürfte für jeden halbwegs im Umgang mit historischen Dokumenten erfahrenen Profi relativ leicht zu entziffern und in die Praxis umzusetzen sein. In seinem Einführungs-Essay „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten: Die unsterbliche Giselle tanzt noch immer auf ihrem Grab“ – ein glänzendes Resümee der Stoffgeschichte, der Rezeption und Überlieferung des Balletts samt der Wiederentdeckung der Aufzeichnung auf einem Flohmarkt in der französischen Provinz – hütet sich Frank Manuel Peter wohlweislich, zu behaupten, dass es sich hier nun exakt um die choreografische Notation der Pariser Uraufführungsversion von 1841 handele. Sie stammt aus dem Jahr 1868, und Peter gibt zu bedenken: „Auch wenn man davon ausgehen muss, dass die Choreografie im Laufe dieser 28 Jahre deutliche Veränderungen erfahren hat, so ist doch der Gedanke, Henri Justamant könnte eine Aufzeichnung der Pariser Fassung angefertigt haben, sehr faszinierend. Immerhin hat der seit den 1840er Jahren an die Aufzeichnung der von ihm einstudierten Ballette gewöhnte Justamant keineswegs nur seine eigenen Ballette aufgezeichnet, sondern auch beispielsweise Aufzeichnungen anderer Choreografien kopiert, um sie später nutzen zu können.“

Immerhin: vielleicht sind wir ja durch diese „Notation aus den 1860er Jahren“ doch ein Stück näher an die Aufführung gerückt, mit der die Choreografen Jean Coralli und Jules Perrot am 28. Juni 1841 die Premierenbesucher in der damals noch in der Rue Le Peletier befindlichen Pariser Opéra entzückten. Und wenn Peter von einem eventuellen „Giselle“-Symposion in den nächsten Jahren in Köln träumt, so läuft meine Fantasie bereits Amok und imaginiert ein „Giselle“-Festival mit einer Einstudierung auf Grund der Justamantschen Notation als Gegenüberstellung mit der heute allgemein praktizierten Version à la St. Petersburg (und als Kontrast dazu Mats Eks eigenwillige Stockholmer Interpretation von 1982).

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