„Der Schwan stirbt jedes Mal anders“

Ulyana Lopatkina, erste Solistin am Ballett des Mariinsky Theaters im Gespräch mit Isabel Winklbauer

München, 27/03/2007

Ulyana Lopatkina (34) ist Erste Solistin am Ballett des Mariinsky Theaters. Sie gehört zu den großen klassischen Ballerinen unserer Zeit. Anlässlich des Gastspiels des Mariinsky-Balletts in München vom 28. bis 31. März sprachen Isabel Winklbauer und Daria Liebl (Übersetzung) mit ihr.


Frau Lopatkina, stimmt es, dass Sie vor einem Auftritt immer sehr aufgeregt sind? 

Ja. Vor allem, wenn ich als Gast irgendwo auftrete. Ich tanze dann ja nicht nur, sondern bin Botschafterin der russischen Kunst und Kultur. Das ist eine große Verantwortung. Aber ich bemühe mich, mir die Aufregung nicht anmerken zu lassen.

Das gelingt Ihnen. Es gibt kaum eine Ballerina, die so unaufgeregt und schnörkellos tanzt wie Sie, dabei aber emotional so stark berührt. Haben Sie diesen ruhigen Stil aufgrund Ihrer großen, schlanken Statur entwickelt? 

Nein, das hat nichts mit meinem Körper zu tun. Ich tanze ein Kunstwerk, immer so, wie ich es inhaltlich interpretiere.

In München tanzen Sie eine von drei „Giselle“-Vorstellungen. Wie interpretieren Sie zum Beispiel diese große Rolle?

Giselle ist eines der wenigen Stücke, in dem es um echte, ehrliche Liebe geht. Um christliche Liebe. Im Christentum, und damit in unserem ganzen Kulturkreis, ist wahre, große Liebe ja immer auch eine verzeihende, sich aufopfernde Liebe. Solch eine Liebe beweist Giselle Albrecht zuletzt, indem sie ihn trotz seines Betrugs vor den Wilis bewahrt. Liebe bringt Opfer und verzeiht - diese Wahrheit möchte ich mit meinem Tanz unbedingt vermitteln. Das ist die große seelische Kunst an „Giselle“. Ich mag das Stück wirklich sehr gerne.

Ihr Mann und Sie haben vor vier Jahren eine Tochter, Mascha, bekommen. Interpretieren Sie „Giselle“ anders, seit Sie Mutter sind? 

Ich denke, jede Tänzerin erlebt Rollen, die sie oft tanzt, in verschiedenen Phasen, egal ob sie ein Kind bekommt oder nicht. Seit ich Mutter bin, erlebe ich tatsächlich eine neue „Giselle“-Phase mit einer neuen Sicht auf die Welt und Liebe. Von der würde ich aber nicht unbedingt sagen, sie sei besser oder intensiver. Seit ich denken kann, bin ich in „Giselle“ an meine äußersten emotionalen Grenzen gegangen.

Auch Ihr Glanzstück, den „Sterbenden Schwan“ werden die Münchner erleben. Wie haben Sie zu ihrer einzigartigen, unprätentiösen und doch hoch emotionalen Interpretation gefunden? 

Natürlich habe ich mir Videos von anderen „Schwänen“ angesehen. Vor allem von Galina Mezentseva, die ich sehr verehre. Doch aus anderen Interpretationen etwas zu entleihen, verbietet sich natürlich ganz und gar. Sie haben mir einfach geholfen, meinen eigenen Ansatz zu finden. Ich setze nur auf mein persönliches Gefühl.

Und was sagt das? 

Wissen Sie, es ist sehr schwer, zu erklären, welche Gefühle mich bewegen, wenn ich den „Schwan“ tanze. Zunächst mal möchte ich dem Zuschauer nicht vorwegnehmen, was er zu empfinden hat, wenn er zuschaut. Jeder fühlt anders, jeder sieht anders. Und außerdem bin auch ich immer anders. Der Schwan stirbt immer anders. Es ist jedes Mal ein einzigartiges Ereignis, dem man sich ausliefern muss. Es muss jeden Zuschauer mitten ins Herz treffen.

Gibt es eigentlich noch einen typischen Mariinsky-Stil? Werden sich die großen Weltkompanien nicht immer ähnlicher?

Oh ja, den Mariinsky-Stil gibt es! Sehen Sie, wir leben und haben unsere Wurzeln weiter nördlich als zum Beispiel das Bolschoi Ballett. In Sankt Petersburg herrscht eine andere Mentalität. Die Mariinsky-Tänzer sind ruhiger und zurückhaltender. Ein bisschen so wie im russischen Sprichwort „Wer langsamer fährt, kommt schneller an“. Gleichzeitig erhalten bei uns die einzelnen Komponenten einer Darbietung immense Bedeutung: Gestik und Mimik sind wichtig, Technik ebenso, aber auch Pantomime oder Corpsarbeit. Alles zählt, alles wird mit gleicher Bedeutung trainiert. Diesen Stil pflege ich. Er gefällt mir.

Sie sind nun seit über 15 Jahren beim Mariinsky-Ballett. Haben Sie schon einmal daran gedacht, zu einer anderen Kompanie zu wechseln? Galina Mezentseva ging ja auch nach 20 Jahren zum Scottish Ballet.

Nein, ich bleibe. Ich gebe unheimlich gerne Gastspiele bei anderen Kompanien, so wie dieses jetzt in München, auf das ich mich sehr freue. Doch meine Heimat ist das Mariinsky, sein Stil ist mein Zuhause. Nur hier kann ich dem Publikum die ganze Bandbreite meiner Kunst zeigen. Wissen Sie, das ist wie mit den Dialekten einer Sprache: Wenn zwei denselben Dialekt sprechen, verstehen sie sich. Und das Mariinsky und ich, wir sprechen denselben Dialekt.

Frau Lopatkina, vielen Dank für das Gespräch.

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