Glückliche Waisenkinder

Fünf Tänzer des Berliner Staatsballetts erzählen von ihrer Erfahrung in der Fremde

Berlin, 20/05/2007

Montag, 10 Uhr früh. Das allmorgendliche Training am Staatsballett Berlin. Auf zwei Säle verteilt dehnen sich über 90 Tänzer, üben Battements und Arabesken, prüfen ihre Linien im Spiegel und folgen dabei den Anweisungen der Ballettmeister. Hier, wo jeder Trainingskleidung trägt, ist die Uniformität der Bühne plötzlich aufgehoben. Anstatt makelloser Schwäne, Prinzen oder indischer Priesterinnen sieht man junge Menschen aus 27 Ländern, die ihre Körper strenger Disziplin unterwerfen. Dennoch ist die Atmosphäre entspannt. Es wird gescherzt, geneckt und geplaudert – in einer Vielzahl unterschiedlicher Sprachen.

„Ich finde das schön, dass verschiedene Kulturen zusammentreffen”, sagt die Demi-Solotänzerin Sebnem Gülseker zwei Stunden später in der Kantine. „Das macht alles aufregender und abwechslungsreicher und bringt viel Farbe und Energie mit sich.” Sebnem ist als eine der wenigen Tänzerinnen in Berlin wirklich zuhause. Geboren in Ankara, wuchs sie seit ihrem dritten Lebensjahr in Steglitz auf. Ihre Eltern, beide Lehrer an deutschen Schulen, ermutigten ihre Tochter schon früh, ihre Leidenschaft für den Tanz zum Beruf zu machen. Nach einer Ausbildung in München tanzte sie lange Zeit in Stuttgart und kehrte vor drei Jahren nach Berlin zurück. Gemeinsam mit ihrem Verlobten, dem Solotänzer Ibrahim Önal, genießt sie die Offenheit der Stadt und die kulturelle Nähe zur Türkei: „Wenn ich in Kreuzberg einkaufen gehe, dann brauche ich kein Wort Deutsch zu sprechen. Es gibt dieselben Produkte – und selbst das Fleisch schmeckt wie in der Türkei.”

Nur wenige ihrer Kollegen haben das Glück, in ihrer Heimatstadt arbeiten zu können. „In unserem Beruf kannst du dir die Stadt nicht aussuchen. Du musst dahin gehen, wo es für deine Karriere am besten ist”, sagt Dinu Tamazlacaru, der soeben vom Direktor Vladimir Malakhov zum Solotänzer befördert wurde. In seiner Heimat Moldawien, einem der ärmsten Länder Europas, gab es für einen Tänzer nur wenig Perspektiven. Also ging er mit 15 Jahren nach Wien, um sich am Konservatorium ausbilden zu lassen. „Die ersten Monate war das sehr schwierig, das erste Mal, ohne meine Eltern zu sein – aber man gewöhnt sich schnell daran.” Für Heimweh bleibt im harten Ballettalltag ohnehin nur wenig Zeit. Viele Tänzer haben bereits Engagements überall auf der Welt hinter sich, bevor sie nach Berlin kamen.

Die Japanerin Emi Hariyama – mit 29 Jahren eines der älteren Mitglieder im Corps de Ballet - erinnert sich: „Als ich 15 war, ging ich für drei Jahre an die Bolschoi-Schule in Moskau. Das war ein richtiger Schock für mich. Es war die Zeit der Perestroika, als die Sowietunion auseinander fiel. Eine ganz andere Welt, als ich sie aus Japan kannte. Es gab kaum Obst zu kaufen – und in meiner Wohnung gab es kein warmes Wasser. Alles, was ich hatte, war das Ballett.” Von Moskau führte Emis Weg nach Essen und anschließend in die USA, wo sie in Boston die Auswirkungen des 11. September 2001 am eigenen Leib erfuhr. „Plötzlich war Tanz nicht mehr wichtig für die Amerikaner. Unsere Company verlor über 6 Millionen Dollar Sponsorengelder, und so wurden viele Tänzer arbeitslos.” Eine Zeitlang arbeitete Emi freiberuflich für wechselnde Kompanien, bis sie vor drei Jahren ein Engagement in Berlin bekam. Sie lebt nahe dem Alexanderplatz in einem Plattenbau und besucht seit kurzer Zeit gemeinsam mit anderen Ballettmitgliedern einen Deutschkurs – obwohl es schwierig ist, regelmäßigen Unterricht mit dem harten Arbeitsalltag zu vereinbaren.

„Wenn du jeden Tag zwölf Stunden arbeitest, ist es schwer, noch die Motivation für etwas anderes zu finden”, seufzt Soraya Bruno. Gemeinsam mit ihrem chilenischen Ehemann, einem Impresario für internationale Ballettstars, kam die Argentinierin vor vier Jahren nach Berlin, da sie die Arbeit in Südamerika als künstlerische Sackgasse empfand. „Es war sehr hart für mich. Ohne die Sprache zu sprechen, ohne andere Leute zu kennen und mit diesem seltsamen, kalten und feindlichen Klima.” Da sie zu jener Zeit nur Spanisch sprach, fühlte sie sich im ersten Jahr als Anhängsel der Kompanie und traute sich nicht einmal, sich in der Kantine zu den anderen zu setzen. Erst als sie Englisch lernte – die Arbeitssprache des Ballettensembles – fühlte sie sich wirklich integriert. „Jetzt sitzen wir alle um einen Tisch herum und haben einen richtig interessanten Austausch. Wir fragen uns gegenseitig, wie es in unseren Ländern ist und was es für Feste und Nationalgerichte gibt.” Auch für sie ist die kulturelle Diversität am Staatsballett eine künstlerische Bereicherung: „Jeder hier bringt seine Kultur und seine Persönlichkeit in seine Rolle ein. Wir Leute aus Lateinamerika haben mehr Feuer, die Nordeuropäer haben eine andere, eher analytische Kraft. Wir gleichen uns sehr gut aus. Wir bringen das Feuer, und sie kühlen uns ein bisschen ab. Und das ist sehr gut so.”

Außerdem ist die Internationalität der Gruppe für sie einer der Gründe für die freundschaftliche Atmosphäre: „In anderen Kompanien gibt es viel mehr Streit und Konkurrenz, hier dagegen spürt man menschliche Wärme. Ich glaube, das kommt daher, dass wir alle aus unterschiedlichen Ländern kommen und alle irgendwie heimatlose Waisenkinder sind.” Obwohl sie im Arbeitsalltag nun mit Englisch sehr gut auskommt, hat sie gerade angefangen, Deutsch zu lernen: „Dieses Land hat uns so gut aufgenommen. Also fühle ich mich verpflichtet, zu lernen, wie man mit den Leuten hier in ihrer eigenen Sprache spricht.”

Martin Buczko spricht längst fließend Deutsch. Nach fünf Spielzeiten in Berlin ist der Ungar einer der Veteranen in der jungen Company. Auch die Stationen seiner Karriere lesen sich wie ein internationaler Reiseatlas: Ausbildung in Budapest, erstes Engagement in Chile (wo er Soraya und ihren Mann kennenlernte, mit denen er nur seit Jahren befreundet ist), anschließend Engagements in Hagen und in Halle. Berlin, wo er nicht nur als Solist glänzt, sondern auch zunehmend eigene Choreographien entwickelt, ist für ihn mehr als nur eine künstlerische Heimat: „Das ist so ein bisschen wie New York in Deutschland. Die Stadt ist sozial und tolerant. Nicht nur was Mode oder Hautfarbe angeht – sondern auch wenn es um Sexualität geht. In Ungarn ist die Gesellschaft eher konservativ. Da gibt es bestimmte Normen, denen man entsprechen muss, sonst fällt man aus dem Rahmen.” Obwohl er wie alle seine Kollegen vor allem für das Ballett lebt, ist es ihm wichtig, auch außerhalb seines Berufes Freunde zu haben: „Es ist sehr gesund, nicht nur Ballettdiskussionen zu führen.” Alle Tänzer sind sich einig, dass sie große Opfer für ihren Beruf gebracht haben. Aber keiner von ihnen bereut es.

Am Mittwochabend gibt Dinu Tamazlacaru sein Rollendebüt als Benno in „Schwanensee”. Wenn man ihn mit leuchtenden Augen über die Bühne fliegen sieht, wirkt er keineswegs wie ein Entwurzelter. Sondern wie ein junger Mann, der seine Heimat im Tanz gefunden hat.

Der Text erschien in Die Deutsche Bühne 5/2007: www.die-deutsche-buehne.de

 

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