Statt Opferhandlung eher Wedekindscher Frühlingsrausch

Wiederaufnahme des Ballettabends „Vier Temperamente“ und „Le Sacre du printemps“

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Halle/ Saale, 01/03/2007

Generalprobe für die Wiederaufnahme des Ballettabends „Vier Temperamente“ und „Le Sacre du printemps“, der im Opernhaus von Halle/Saale im November 2005 Premiere hatte, choreografiert von Ralf Rossa, der dort seit 1998 Ballettchef ist und einer Truppe von zwei Dutzend Tänzer vorsteht (immerhin: wie viele unserer Theater dieser Größenordnung leisten sich heutzutage noch zwei Dutzend Tänzer!). Im so gut wie leeren Zuschauerraum komme ich mir vor wie der Bayern-Ludwig in einer seiner Separatvorstellungen. Gott sei Dank werde ich nicht mit Wagner traktiert, sondern mit – na ja, da war ich doch etwas verblüfft, denn bei der Ankündigung der „Vier Temperamente“ hatte ich natürlich (?) mit Hindemith (wenn auch nicht unbedingt Balanchine) gerechnet. Stattdessen gab es eine Auftragskomposition von Detlef Glanert, Jahrgang 1960, mit dem das Opernhaus Halle schon seit längerem eine fruchtbare Opernliaison unterhält.

Seine „Vier Temperamente“ sind nach einer Messe von Heinrich Isaak entstanden – eine Art Palimpsest-Komposition also, bei der das Original immer wieder durchschimmert. Musikalisch ausgesprochen faszinierend, wenn es mir auch schwerfiel – von Hindemith/Balanchine verwöhnt –, irgendwelche Bezüge zu den vier Gemütszuständen dingfest zu machen. Auch nicht in der ausgesprochen sensibel auf die Musik eingehenden Choreografie von Rossa, die sich dezidiert als Stück „für vier Ausnahmetänzer“ klassifiziert gibt. In einem reich bestückten klassisch-modernen Idiom, in Schläppchen, durchaus individuell variiert – insbesondere in der Schlussvariation für einen Tänzer, der eine Art Dialog mit einer Säule führt, aus der ein regelrechter Pas de deux für Tänzer und Säule wird. Insgesamt ist mir aber die Choreografie zu sehr mit pantomimischen Gesten angereichert, deren Bedeutung ich nicht ergründen kann.

Die Vier – Yan Revazov, Michal Sedlacek, Frank Schilcher und Rafal Zeh – machen ihre Sache exzellent, aber ich hätte mir doch gewünscht, dass Rossa sie charakterunterschiedlicher differenziert hätte. Ist aber musikalisch so lohnend und farbig, dass ich sie musikhungrigen Choreografen unbedingt empfehlen kann. Übrigens machen auch Bühnenbild, Beleuchtung und die Interpretation von Glanerts Musik unter der Leitung von Pavel Baleff einen sehr positiven Eindruck. Und das gilt auch von Rossas ebenfalls sehr musikfeinhörig gearbeiteter Version von Strawinskys „Le Sacre du printemps“.

Nichts da von russisch-atavistischem „Frühlingsopfer“, sondern eher die Konfrontation einer Jungen- und Mädchengruppe in einem Wedekindschen „Frühlingsrausch“. Junge Menschen in der Pubertät, die sich ihrer sexuellen Triebkräfte bewusstwerden und sie ausleben, anfangs zögernd und sich selbst misstrauend, dann immer ekstatischer lustbetont bis zu sado-masochistischer Gewalttätigkeit eskalierend – immer wieder aber auch unterbrochen durch Momente zärtlicher Zuwendung. Kein origineller großer Wurf à la Béjart, aber doch immer wieder zu Soli und großen Gruppenarrangements gesteigert, die eine ausgesprochene Sogkraft haben und immer aus der Musik herauswachsend. Und so das durchaus eigenständige Profil bestätigend, das sich das Hallenser Rossa Ballett inzwischen erarbeitet hat, mit durchaus ihren Job professionell ausführenden Tänzern. Würde jedenfalls gern ab und zu nach Halle ins Ballett gehen – wenn's doch bloß nicht gar so weit von Stuttgart entfernt wäre.

 

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