Choreografisches Theater und der Rausch der Bewegung

Ballettabend von Ralf Rossa mit Musik von Igor Strawinsky und Carl Orff

Halle, 16/11/2009

„Geht nicht, gibt‘s nicht!” So hat Halles erfolgreicher Ballettdirektor Ralf Rossa, der in den vergangenen zehn Jahren mit seinem BallettRossa Sachsen-Anhalts „Kulturhauptstadt” mit seinem innovativen und immer wieder überraschend neuen Tanztheater auch überregional zu Anerkennung verholfen hat, aller Skepsis zum Trotz mit seinem neuen Ballettabend wiederum etwas Außergewöhnliches gewagt. Mit der Oper „Die Geschichte vom Soldaten” von Igor Strawinsky und der szenischen Kantate „Carmina Burana” von Carl Orff hat er zwei Schlüsselwerke der Moderne des 20. Jahrhunderts, die keine eigentlichen Ballettsujets sind, als Tanztheater inszeniert und im Opernhaus Halle in Form eines zweiteiligen Ballettabends zum ersten Mal mit seinen hoch motivierten 24 Tänzern auf die Bühne gebracht. Frank Philipp Schlössmann (Bühne) und Wiebke Horn (Kostüme) erwiesen sich dabei als kongeniale Partner für seine choreografische Fantasie. Rossa kreierte für die beiden so gänzlich unterschiedlichen Werke eine ebenso originelle wie vor allem bei Carl Orffs „Carmina Burana” überraschend andersartige szenisch-tänzerische Interpretation.

Dabei setzte der Choreograf in „Die Geschichte vom Soldaten” vor allem auf die Wirkung der von nur sieben Instrumenten getragenen, minimalistischen Musik des Komponisten und mehr noch auf den Rhythmus des teils in Versform zusammen mit der Musik deklamierten Textes. So formiert Ralf Rossa aus der einer russischen Märchensammlung von Alexander Afanasiev entlehnten Geschichte von der Glückssuche eines aus dem Kriege heimkehrenden Soldatens ein Tanzpoem als choreografisches Theater, bei dem Bewegung, Wort, Spiel und Pantomime in einem Wechsel von bizarren Lichtstimmungen zu einem Ganzen verwoben sind. Dabei verwendet Rossa mit dem immer wiederkehrenden Bildmotiv der Zeit und ihrer Vergänglichkeit (symbolisiert durch sich auflösende Zeiger und Ziffern der Uhr) starke Symbole, die die Geschichte ganz gegenwärtig und aktuell erscheinen lassen. Überzeugend gestaltet der Choreograf vor allem den Zusammenklang des Spiels von Georg Strohbach als Vorleser mit Ego und Stimme des Soldaten (Michal Sedláček) und dem in vielerlei Gestalt umtriebig als Widersacher auftretenden Teufel (Franz Paetzold). Seine Inszenierung eines Ineinandergreifens von Realität und Fiktion, Gegenwart und Erinnerung gestaltet er mittels einer Bewegungssprache, die an das moderne Tanztheater des frühen 20.Jahrhunderts erinnert. Er verbindet sie im Pas de deux des Soldaten mit der Prinzessin, wunderbar als Adagio von Michal Sedláček und Ludivine Revazov-Dutriez getanzt, mit Bewegungen des klassischen Balletts. Rossa inszeniert die Geschichte des Soldaten als Kaleidoskop der Erinnerungen: Die von zwei gegenüberliegenden Galerien begrenzte Bühne wird zum Erlebnisraum, in dem die Vergegenwärtigung einer erzählten Geschichte vonstatten geht. Dabei werden durch die Rituale der Bewegungen die in der Oper von Strawinsky fest gefügten Rollenidentitäten von Vorleser, Soldat, Teufel und Prinzessin eliminiert. Die Charaktere vermischen sich, wechseln ihre Identitäten, durchlaufen Phasen der Kongruenz. Das Heimkehrer- und Glückssuchermotiv bricht sich nicht nur durch die Präsenz von bewaffneten Soldaten als albtraumhafte Erinnerungen des Soldaten. Auch in den Bewegungstableaus, im Nebeneinander von Schönheit und Grausamkeit, Poesie und Brutalität, von Zivilisation und Krieg als einer Form des Lebens macht Ralf Rossa überzeugend die Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit dessen transparent, was das Menschsein ausmacht. Und hier brilliert einmal mehr ein überragender Michal Sedláček mit athletischer Eleganz, pantomimischer Ausdrucksstärke und tänzerischem Charisma.

Großes Theater ohne mittelalterlichen Popanz und szenische Opulenz schuf Rossa dann in „Carmina Burana„ gemäß der Gliederung von Carl Orffs monumentalem Chorwerk in „Primo vere”, „Uf dem Anger”, „In taberna”, „Cours d‘amour” und „Blanzifor et Helena”: So wie das musikalische Material von Orff in seiner musikalischen Schlichtheit und instrumentalen Raffinesse, in seiner archaischen Harmonik ohne eine Kontrapunktik im eigentlichen Sinne und in der opulenten Klangwucht der Chorsätze, auch durch die Texte in mittellateinischer und mittelhochdeutscher Sprache unmittelbar wirkt, so lässt Ralf Rossa in einem Rausch der Bewegungen immer neuen Formationen von Gruppe und Soli, von Männerreigen und Frauenriegen, von Pas de quatre und Pas de six der Solisten entstehen. Die in hauchdünne uniforme Kleider gewandeten Tänzerkörper werden hier zum Mittelpunkt des Geschehens, zum visuellen Zentrum, einem das Leben und die Liebe in allen Spielarten und Schattierungen ausschreitenden Zentrum. Der große Eingangschor „Oh Fortuna” schafft mit den wuchtigen Ostinati den Anfang des Reigens, der sich in ebendiesem Chor am Schluss wieder schließt. Mit raffinierten Port de bras, fast schon akrobatisch erlebt man dieses Glücksrad, aus dem sich alles entwickelt und in das alles wieder mündet. Und dieses Wechselvolle, ausgedrückt vom Chor und Extrachor der Oper Halle (Einstudierung: Jens Petereit) und den Solisten Marie Frederike Schöder, Axel Köhler und Gerd Vogel, zeigt Rossa in immer neuen Variationen, visuell unterstützt durch das Spiel von Farben des Lichts. Da gibt es komische Cake-Walks der Herren und Allemendes der Mädchen, die sich vereinen, lösen und wieder finden. In wechselnden Formationen, wunderschön synchron in den Bewegungen der Arme und Hände, gibt es Farandole, Forlana und Kolo; schwebend und wiegend, zart und innig als klassisches Adagio tanzen Michal Sedláček und Markèta Slapotovà das „Amor volat undique. Zdenko Galaba beeindruckt in „Omnia sol temperament” als Lobpreisung („Primo vere”) des Frühlings, als hinreißenden Slapstick zeigt mit burleskem Charme Tobias Almasi das „Lied vom gebratenen Schwan”. Ausdrucksstark als Gruppentableau gestaltet ist das „Ave formosissima” aus „Blanziflor et Helena”. Die Staatskapelle Halle unter Michael Stolle musiziert mit Eifer, im ersten Teil mit kammermusikalischer Raffinesse und im zweiten Teil mit wohl ausbalancierter Klangmassierung. Ein beglückender Ballettabend in der Oper Halle.

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