Lustig ist das Kolchosenleben

Ratmanskys „Der helle Bach“ beim Bolschoi-Gastspiel in der Staatsoper

oe
Berlin, 20/10/2007

Drei Wochen lang gastierte das Moskauer Bolschoi-Ballett kürzlich in London. In Berlin, ehemals Hauptstadt der DDR und der unverbrüchlichen sowjetisch-deutschen Völkerfreundschaft, gab es nach jahrzehntelanger Abwesenheit Unter den Linden gerade mal vier Vorstellungen – zweimal „Schwanensee“ und zweimal „Der helle Bach“. Für das Düsseldorfer November-Gastspiel der Moskowiter sind immerhin fünf Vorstellungen angekündigt: dreimal „Schwanensee“ und zweimal „Don Quixote“ – wenigstens den „Don Q.“ am 8. und 9. sollte sich kein rheinischer Ballettjeck entgehen lassen. Auch das sagt ja einiges über das Ranking Deutschlands im internationalen DAX (oder seinem Ballett-Äquivalenz als DBX) aus.

In der Berliner Staatsoper gab es hellen Jubel für Alexej Ratmanskys „Der helle Bach“, Jahrgang 2003, der dem damals 35-Jährigen die Ernennung zum Chef des Bolschoi-Balletts einbrachte. Der hat sich als Tänzer und Jungchoreograf einen enormen Erfahrungsschatz angeeignet durch seine Engagements nicht nur in Russland, sondern auch in Amerika und beim Königlich Dänischen Ballett. Schostakowitschs drittes Ballett „Der helle Bach“ war 1935 in Leningrad zur Uraufführung gelangt und nach nur einer Vorstellung, von der „Prada“ als „Ballettbetrug“ gebrandmarkt, sofort wieder in der Versenkung verschwunden. Den Funktionären missfiel der leichtherzige Umgang mit dem damaligen Kulturfetischismus der Kollektiwnoje chossjajstwo alias Kolchose.

Dabei handelt es sich um eine der spritzigsten, fußkitzelndsten Partituren Schostakowitschs, die denn auch, gespielt vom Orchester des Bolschoi-Theaters unter Pavel Sorokin, in der Berliner Lindenoper all ihren übermutig frechen Charme versprühte. Und diese augenzwinkernde Perspektive suggerierte denn auch gleich der Zwischenvorhang des für die Gesamtausstattung verantwortlichen Boris Messerer mit seiner Hammer-und-Sichel-Pathetik, der sich dann zum 1. Akt öffnete und eine Bühne präsentierte, wie ein riesiger Bienenkorb aus lauter landwirtschaftlichen Produkten, stolzes Zeugnis des mehrfach übererfüllten Ernte-Solls. Und im Sonntagsstaat, in kunterbunt bedruckten Kattun-Fähnchen die Genossenschaftsbäuerinnen und frisch gestärkt die blendend weißen Hemden der Burschen und die rot besetzten Kosakenpelze: der halbe Kaukasus, so schien es, Alte und Junge, war da hochgestimmt zur Erntefeier auf der Bühne versammelt.

Dafür waren eigens ein paar Ballettstars aus Leningrad angereist, die nicht nur ihre Künste demonstrierten, sondern sich auch intensiv unters Volk mischten – mit den obligatorischen Liebesturteleien versteht sich. Und so geht es gar lustig zwischen den Kaukasiern und den Zugereisten zu – und gar erst in der lauen Sommernacht des zweiten Aktes, die in ein wahres Erotikon à la „Sommernachtstraum“ überschwappt, in dem über kreuz und quer geliebt und auch vor transvestitischer Verkleidung nicht zurückgeschreckt wird. Reichlich Gelegenheit für Ratmansky also, aus dem Füllhorn seines Erfahrungsschatzes zu schöpfen, und das tut er denn auch, immer exakt auf die Musik hörend, in einer solchen Überfülle, dass einem schier die Augen übergehen, hin und her voltigierend zwischen akademischer Klassik, Folklore, Charaktertanz, Travestie und in den grandios gesteigerten Ensembleformationen unverkennbar auch an seine Broadway-Erfahrungen anknüpfend.

Souverän gebietet er über ein derart breit gefächertes Vokabular wie kein anderer Choreograf in Ost und West (jedenfalls kein mir bekannter). Kein bravouröser Virtuositätsakt, keine mimische Geste, kein Augenzwinkern, das nicht theatralisch-dramaturgisch gerechtfertigt wäre – und alles bis in kleinste Detail ausgefeilt! Seine einzige Schwäche: dass ihm immer noch etwas Neues einfällt, und er sich nicht bremsen kann (aber da ist ja Schostakowitsch mit seinem minutiösen Timing, der ihn an die Kandare nimmt). Das beeinträchtigt ein bisschen den zweiten Akt mit seinen ausufernden transvestitischen Episoden à la „La Sylphide“. Derartige Extravaganzen servieren die Boys von den amerikanischen Ballets de Trockadero denn doch mit mehr Chuzpe.

Mit seinem „Hellen Bach“ hat Ratmansky ein kleines Wunder bewirkt. Indem er sich eng an das Originallibretto von Adrian Piotrowski und Fjodor Lopuchow hält (an die Musik von Schostakowitsch sowieso), belässt er ihm zwar seine Agit-Prop-Attitüde, entfettet ihn aber um ganze Kilo sowjetischer Pathetik, die er durch eine hochkünstliche Naivität von umwerfenden Charme ersetzt. Besonders wenn sie so leicht hingetupft wird wie von den fabulösen Bolschoi-Tänzern, denen Ratmansky alle frühere athletische Kraftmeierei ausgetrieben hat.

Ohne im mindesten an Virtuositätsschliff eingebüßt zu haben, tanzen sie heute so schwerelos, dass man versucht ist, ihrem Stil eine geradezu italienische Leggerezza zuzubilligen. Wie sie sie gleichwohl mit unverkennbar russischem Wodka-Temperament präsentieren, macht ihre Art zu tanzen unwiderstehlich. Überrollte die Generation ihrer Bolschoi-Väter das Publikum geradezu wie eine Dampfwalze, so rechtfertigen sie heute Puschkins legendäre poetische Verklärung als „Tanz auf Äols Schwingen“.

Die Berliner Premiere war offensichtlich gegenüber London – mit zwei Ausnahmen (Sergej Filin als Partner der Leningrader Ballerina und Gennadiy Yanin als Akkordeonspieler) – nur zweitbesetzt. Allerdings fällt es schwer, sich angesichts der überaus versierten Tänzer eine noch hochwertigere Solistenbesetzung vorzustellen. Schwindelfrei balancierten sie alle, Solisten und Corpstänzer, auf dem Hochseil zwischen Naivität und Sentiment, furchtlos über dem unter ihnen gähnenden Abgrund der Parodie und Karikatur. Als seine nächste große Bolschoi-Produktion hat Ratmasky eine Neuauflage des Sowjetklassikers „Flamme von Paris“ angekündigt. Lieber wäre mir ein Ratmansky als Autor einer Bolschoi-Kreation mit dem Titel „Gaité moscovienne“.

 

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