Ein Oratorium nicht nur zu Weihnachten

John Neumeiers neueste Bach-Kreation hatte in Hamburg Premiere

Hamburg, 25/12/2007

Es hat etwas Gemurre gegeben in jüngster Zeit, dass John Neumeier nun schon zum zweiten Mal die Uraufführung eines seiner Werke nicht dort stattfinden lässt, wo er mit der Kompanie zuhause ist: in Hamburg. „Parzival“ wurde vor einem Jahr zuerst in Baden-Baden präsentiert, das „Weihnachtsoratorium“ jetzt in Wien. Er sei seit 35 Jahren in Hamburg, da seien zwei Premieren außerhalb nichts Besonderes, zumal er dort bessere Probenbedingungen geboten bekomme, konterte Hamburgs Ballett-Intendant. Und tatsächlich: Es ist unverkennbar, dass dies den Werken gut bekommt. Beim „Weihnachtsoratorium“ war das jetzt ebenso augenfällig wie schon bei „Parzival“: vor allem seine ausgefuchste Licht- und Bühnenregie konnte John Neumeier voll ausarbeiten (sehr schön z.B. gleich im ersten Bild das Kreuzsymbol aus Lichtstraßen, in deren Schnittpunkt die Menschen stehen).

Das Stück gewinnt daraus immer wieder Spannung, Atem, Kraft. Vielleicht wäre es bei solchen Tatsachen einmal angebracht, die heutigen Produktionsbedingungen zu überdenken, die dem Ballett gerade für die aufwendigen Bühnenproben und das Feilen an Details oftmals zu wenig Zeit lassen. Kein Wunder, wenn Präzisionsfanatiker wie John Neumeier dann dorthin gehen, wo sie ihren hohen Ansprüchen gemäß ordentlich arbeiten können. Das Ergebnis in Form einer blitzsauber polierten Aufführung kommt Hamburg dann ja allemal zugute. Um die vielen verschachtelten und bewegungsreichen Arrangements dieses „Weihnachtsoratoriums“ in ihrer Vielschichtigkeit zu erfassen, muss man das Stück mehrfach schauen. Zu viel Raffinesse steckt im Detail, als dass man alles schon beim ersten Mal voll gewahr werden könnte. Aber der Eindruck sitzt: seinem Inhalt entsprechend ist dieses Bach-Werk eine großartige Mischung aus Freude, Jubel, Glück und Überschwang, gepaart mit Nachdenklichkeit, Verzagtheit, Zaudern und Ungewissheit. Licht und Dunkel. Gemeinsamkeit und Einsamkeit. Neumeiers neuestes Oeuvre ist reich an neuem Bewegungsvokabular, an Intensität und an Virtuosität.

Allen voran Anna Polikarpova (durchgehend barfuß tanzend), die gerade deshalb so stark wirkt, weil sie sich großartig zurücknimmt und dadurch eine Expressivität gewinnt, die ich selten an ihr gesehen habe. Und Lloyd Riggins natürlich, dessen darstellerische Tiefe so kongenial zu Neumeiers Ideen für diese Wanderer-durch-die-Welten-Figur passt, die mit einem weniger reifen Charakterdarsteller nur allzu leicht ins Manierierte abzurutschen droht. Ärgerlich allerdings, dass am Anfang des ganzen Stücks, wo das Orchester noch schweigt, das Publikum wieder mal ein polyphones Hustenkonzert anstimmt, das die dichte, konzentrierte Stimmung doch nachhaltig stört.

Neben Silvia Azzoni (als einzige auf Spitzenschuhen) als wunderbar sphärengleichem, reinen und nie kitschigem Engel brillieren vor allem Kusha Alexi (die endlich in Hamburg Tritt gefasst zu haben scheint und sich in diesem Stück wunderbar in Neumeiers Körpersprache zurechtfindet) und Peter Dingle als Josef bzw. „ihr Mann“, dem Neumeier ein wahres Feuerwerk an choreographischen Ideen zugedacht hat, was Peter Dingle sowohl technisch als auch darstellerisch brillant meistert. Patricia Tichy, 2006 aus Wien nach Hamburg engagiert, erfüllt ihren solistischen Part furios und mit höchster Präzision. Die Überraschung des Abends sind jedoch zwei Tänzer: Arsen Megrabian als zweiter Engel (für den leider schon wieder erkrankten Thiago Bordin), von schwereloser Leichtigkeit in den Sprüngen und makelloser Eleganz, und Joseph Aitken, ein seit 2002 in Hamburg engagierter 24jähriger Gruppentänzer aus Australien, der seinen halbsolistischen Part so brillant, akkurat und ausdrucksstark tanzt, dass man die Augen von ihm kaum noch zu lösen vermag. Es wäre sehr spannend, ihn einmal als Solist zu sehen.

Die Ensembles (mit vielen raffinierten Hebungen, Drehungen, Schwüngen, Schrittfolgen) müssen noch ein bisschen „geputzt“ werden, damit sie im Tempo mit dem an manchen Stellen zu überschwenglich jauchzenden und frohlockenden Orchester unter der Leitung von Alessandro di Marchi mithalten können. Das ist einerseits eine Frage des häufigen Wiederholens, denn das gesamte Corps ist mit Feuereifer und ganz großer Tanzlust bei der Sache, andererseits wäre es aber auch durchaus angebracht, wenn de Marchi den Tänzern (und auch den Sängern) ein wenig mehr Atem geben könnte. Sein italienisches Temperament geht da manchmal allzu sehr mit ihm durch, was weder der Choreographie bekommt noch der Musik.

Großartig der Chor der Hamburger Staatsoper, dessen Sängerinnen und Sängern – am hinteren Rand des Grabens im Halbkreis aufgereiht – man direkt ins Gesicht schauen kann und bei manchen seine helle Freude hat, so konzentriert und ausdrucksstark wird hier musiziert. Das zurückhaltende Bühnenbild von Ferdinand Wögerbauer verleiht dem Ganzen zusätzliche Tiefe. Hier sprechen vor allem Körper, Gesten und Bewegungen. Sparsam nur werden zwei, drei durchscheinende Trennwände und schiefe Ebenen hin- und hergeschoben, die vielseitig einsetzbar sind – mal als Paravent, mal als Glashaus, als Erdhügel oder als Himmelslicht, das beim Kommen und Gehen der Engel den ganzen Zuschauerraum plötzlich goldgleißend überflutet und somit schlagartig alle Huster zum Verstummen bringt. Das Tannenbäumchen, das Lloyd Riggins durch das Stück trägt und zum Schluss an den nächsten Wanderer wie ein Staffelholz weiterreicht, ist die einzige Reminiszenz dieses Stücks an Weihnachten, das ansonsten zeitlos in jede Jahreszeit passt und gerade deshalb ein funkelnder Edelstein mehr ist im Schatzkästlein des Neumeier-Repertoires. Es sind ihm viele Aufführungen zu wünschen – nicht nur zur Weihnachtszeit.


Link: www.hamburgballet.de

 

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