Hat Stuttgart eine Juniorkompanie?

Eine Matinee der John Cranko-Schule mit „L'Estro Armonico“ und „Etuden“

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Stuttgart, 08/07/2007

Ein bisschen Geschichte muss sein! Und so gehen an diesem Sonntagmorgen bei der jüngsten Matinee der John Cranko Schule im Opernhaus die Gedanken 44 Jahre zurück, bis zu jenem 27. April 1963, als an diesem Ort, auf dieser Bühne Crankos Ballett „L‘Estro Armonico“ zur Uraufführung gelangte, Teil eines Programms, zu dem Peter Wright seine Einstudierung von „Les Sylphides“ und die Uraufführung seiner „Mirror Walkers“ beigesteuert hatte und Cranko außerdem noch den Rausschmeißer seiner „Reise nach Jerusalem ... Ein Spiel mit Stühlen“. Es war die erste Premiere nach der triumphalen „Romeo und Julia“-Produktion vier Monate zuvor. Und „L‘Estro Armonico“, von Kurt-Heinz Stolze aus diversen Vivaldi-Konzerten zusammengestellt und instrumentiert (eine Gelenkigkeitsübung für seine sechs Jahre später entstandene „Der Widerspenstigen Zähmung“?) war der eindeutige Hit des Abends: ein rein konzertantes Ballett wie eine Hommage an George Balanchine und die Symmetrien seines „Concerto Barocco“.

Von den Absolventen der Cranko-Schule picobello getanzt, fühlte man sich selbst um 44 Jahre verjüngt. Und so sah man in den beiden duettierenden Jungen des ersten Satzes, Alvaro Dule und Norbert Lukaszewski, die potentiellen Hugo Delavalle und Richard Cragun von morgen, in dem von Francesca Berruto dominierten Mittelsatz eine Nachfolgerin von Ana Cardus und in Anais Bueno Garces als Finalistin womöglich die nächste Aurora aus der Stuttgarter Ballettmanufaktur.

Als Patinnen (sozusagen die Guten Feen) der hoch willkommenen Neueinstudierung hatten Georgette Tsinguirides, Sarah Abendroth und Ana Jojic das Qualitätssiegel „Made in Stuttgart“ aufgedrückt, und so tanzten alle Beteiligten mit einem Elan, dass man meinen konnte, der Geburt der neuen Juniorkompanie des Stuttgarter Balletts beizuwohnen. Denn „pfiffig schnurrt es ab, lebendig und klug“, wie ihnen damals Klaus Geitel in der „Welt“ attestierte. Und pfiffig, lebendig und klug tanzten es die Junioren aus der Olgastrasse, als hätte es Cranko eigens für sie choreografiert, eine Visitenkarte der dort geleisteten Qualitätsarbeit.

Und nach der Pause dann das große Crescendo der „Etuden“ –die Cranko Schule komplett, samt Vorschule, mit allen sechs Klassen und den beiden krönenden Akademieklassen. Das schäumt auf vom nonchalanten Beginn, bei dem man sich wie in der Kita des Balletts vorkommt, über die verschiedenen Ausbildungsstufen bis zu den Absolventen der Hochleistungskurse unmittelbar vor der Meisterprüfung, bei denen man mutmaßte, dass sie sich in der Luft wesentlich wohler fühlen als auf dem Boden. Auch wenn man nicht ganz die Erinnerung an die „Etudes“ verbannen kann, die Harald Lander zu dieser Musik (die ja nicht nur, wie im Programm verlautet, von Karl Czerny stammt, sondern von Knudage Riisager höchst wirkungsvoll aufgepeppt wurde), so ungemein spektakulär choreografiert hat, lässt man sich doch widerstandslos in den Strudel verquirlen, den die Tänzer auf der Bühne entfachen, und der von dort aus in den Zuschauerraum schwappt. So dass dem Publikum gar nichts anderes übrigbleibt, als sich durch Klatschen gegen die Wogen zu behaupten, die es zu überschwemmen drohen.

Was die Crankoianer auf der Bühne veranlasst, am Schluss den Vorhang noch einmal aufgehen zu lassen und zu den stampfenden Beats der Cranko-Hymne im Strobolight einen fetzigen Schwof auf die Bretter zu knallen, der alle Aussicht hat, bei künftigen Cranko-Festivitäten zum musikalischen Logo des Stuttgarter Balletts zu werden – quasi sein getanzter Klingelton. Ein Produkt der Kooperation von Schule und Kompanie, wie es das bisher noch nicht gegeben hat.

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