Tanz jenseits des Irdischen

Das Oberammergauer Passionstheater, von John Neumeier und dem Hamburg Ballett geadelt

Oberammergau, 23/07/2007

Aus Achtung vor Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ und vielleicht auch vor der Formation des Hamburg Balletts in seinen weißen Gewändern legte sich alsbald Stille über die riesige, zu vier Fünfteln gut gefüllte Zuschauertribüne. Die große Qualität und Dimension dieser Aufführung wurden bereits in den ersten Tönen des Münchner Rundfunkorchesters hörbar, das mit drei Chören und acht Solisten das linke Viertel der breiten Bühne besetzte. Für die Darstellung der biblischen Handlung („... zwei Tage, bis ich gekreuzigt werde“) und ihrer Deutung durch Bach bzw. Neumeier erwiesen sich die halbabstrakten Illustrationen, die letzterer schuf, als völlig sinnfällig.

Dabei agierte die durch zwei Adlaten in ihren plastischen Möglichkeiten vergrößerte Christus-Figur völlig unprätentiös zwischen mehreren Gruppen (insgesamt 21 Tänzer und 20 Tänzerinnen), darunter den zwölf Jüngern, wechselnden Ensembles also, die oft in Slow Motion, raschen Läufen oder überzeugender Bewegungsfindung die handelnde und betrachtende Welt sichtbar machten. Mit seinen Vervielfältigungen biblischer Gestalten auf beispielsweise drei Tänzerinnen erzielte Neumeier beeindruckende Effekte und verlieh spätestens in der szenischen Umsetzung seiner Interpretation des Abendmahl-Geschehens den Bewegungen seiner Tänzer eine Ausdrucksstärke, die den Elaboraten von Bildhauern gleichkam, die über ihr seelisches Innenleben viel verraten.

Im weiteren Verlauf festigte sich die Gewissheit: Dieses „Ballett“ sprengt, auch im expressiven Fortissimo, nicht den sakralen Rahmen, sondern steht in seiner Ernsthaftigkeit gleichwertig neben Bachs Musik und dient ihr mit leichthin pointierten Schritten. Die Körper schienen sich vom Irdischen zu emanzipieren und wurden zum Medium des dramatischen und psychisch-menschlichen Inhalts des Evangeliums – dank der Schwerelosigkeit der Tänzer, die eine mehrschichtig angelegte, hochvirtuose Choreografensprache und tolle Sprünge zu bewältigen hatten und das glanzvoll schafften. Choreografie und Tanz verschmolzen mit der Musik und bestätigten deren Größe.

Unter Günter Jena (auch am Cembalo), der das Münchner Rundfunkorchester, den Münchner Bachchor und den Kammerchor Oberammergau leitete, erklang diese „Matthäuspassion“ gleichermaßen schlank, transparent und kraftvoll. Zu ihrer Luzidität trug auch die Leistung der acht Solisten viel bei, an der Spitze die textlich mühelos verständlichen und innerlich erfüllten Stimmen des Evangelisten (Werner Güra) und des Christus (Simon Pauly). Immer wieder fesselten Neumeiers geniale Visualisierungen des biblischen Geschehens die Aufmerksamkeit. Beispiele: Die Angst des Judas zu sehen, was er angerichtet hatte, trieb diesen durch das ganze Passionstheater. Die Verzweiflung des Petrus über sein Versagen war auch in seiner körperlichen Darstellung radikal. Die tauben Ohren der Oberpriester für die Reue des Judas („Gebt mir meinen Jesus wieder!“) und die Wahl, die Pilatus dem Volk gab und die auf Barabbas fiel, wirkten beklemmend.

Auch die tänzerische Schönheit mancher Passagen öffnete nachhaltig die Sinne. So konnte man sich fragen, wann man beispielsweise den Choral „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ mit einem so bewusstem Bezug auf seinen Inhalt gehört hat. Über vier Stunden blieb die Aufmerksamkeit unvermindert, auch wegen Neumeiers souveränem Blick auf das Gesamtgeschehen und seiner Musikalität, seiner bis zum Schlusschor großartigen Ensembleführung. Eine solche nicht vereinnahmende, aber tief berührende Vergegenwärtigung eines Kerns unserer Kultur müsste institutionalisiert werden, eigentlich sogar in kürzeren Zeitabständen als das sonst in Oberammergau übliche Passionsspiel! Die dortigen Veranstalter haben jedenfalls ebenso wie die Technik und das Publikum, das für minutenlange Ovationen stehen blieb, hohes Lob verdient.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern