Glanz und Glamour mit Knochenbeilage

„Ballets Russes“: Der Film über die Erben der Diaghilew-Kompanie

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Stuttgart, 14/02/2007

Welch ein Film! Welch eine Zeit! Welch eine Fülle von Persönlichkeiten! Es handelt sich um eine amerikanische Produktion der Filmemacher Dayna Goldfine und Dan Geller, die aus Archivmaterial, Interviews, Probenbesuchen und Kommentaren eine zweistündige Folge zusammengestellt haben über die Persönlichkeiten, die nach dem Tod von Diaghilew die internationale Ballettszene beherrscht haben – insbesondere die rivalisierenden Truppen, die beide den Namen Monte Carlo für sich reklamierten und als Ballets Russes zeitweise einen regelrechten Ballettkrieg miteinander führten – die eine unter der Leitung von René Blum und dem Colonel de Basil, die andere unter Serge Denham.

Sie existierten vom Anfang der dreißiger bis Anfang der sechziger Jahre, ständig am Rande des Bankrotts operierend, in Europa, den beiden Amerika und Australien und jagten einander die Stars ab. Ausgangspunkt dieser Zeitreise ist ein Treffen der überlebenden Veteranen im Jahr 2000 in New Orleans – lauter Senioren in entsprechend unterschiedlicher körperlicher Verfassung, aber ausnahmslos alle von einer offenbar unverwüstlichen Lebenskraft und einem Lebensmut erfüllt, die sie eindeutig ihren rigorosen jahrzehntelangen Exerzitien im Trainingssaal und auf den Bühnen der Welt verdanken. Man bestaunt sie fasziniert und einigermaßen fassungslos. Persönlichkeiten wie sie gibt es heute in der ganzen globalen Tanzwelt nicht mehr! Wie jung sie alle waren (und geblieben sind, wenn auch ihre Haut und ihr Bewegungsapparat gealtert sind)!

Die Choreografen in der Turboexistenz ihrer Kreativität: Fokine und Massine (der ganz besonders), Nijinska, Balanchine und Lichine. Die Domina der Teenage-Ballerinen Alicia Markova, die Baby-Ballerinen Baronova, Toumanova und Riabouchinska, die unvergleichliche Danilova, Mia Slavenska, Nini Theilade, Natalie Krassovska, Yvonne Chouteau, Nana Gollner, Nina Novak und Maria Tallchief (fehlt nur Alicia Alonso), und all die Ballerini, angefangen von dem auch in den Neunzigern noch nicht zu bremsenden Frederic Franklin, Anton Dolin, Marc Platt, Leon Danelian, Raven Wilkinson (der erste Farbige in einer der großen amerikanischen Kompanien), Alan Howard und der so übersprudelnd gut gelaunte George Zoritch (unverzeihlich, dass er in allen einschlägigen Lexika fehlt). Und dann sind da die Dutzende von historischen Filmschnipseln, häufig zu notdürftig arrangierter Musik, aus den Klassikern von „Giselle“ über „Coppélia“, „Schwanensee“, „Dornröschen“, „Nussnacker“ und „Raymonda“ (aber noch keine „Bayadère“), aus „Les Sylphides“, „Petruschka“, „Spectre de la rose“ und dem „Goldenen Hahn“, viel Massine (seine göttlichen Offenbachs, aber auch die sinfonischen Ballette), Nijinsky mit dem „Nachmittag eines Fauns“, Nijinska mit „Les Biches“ und der „Etude“, von Balanchine unter anderem auch „Jeu de cartes“ und Lichine mit dem „Kadettenball“ ... Quelle embarras de richesse!

Und als Bonus noch dazu eine reich bestückte Fotogalerie, eine Auswahl der Programmheft-Covers, und schließlich die Interviews mit den amüsanten und den nicht so amüsanten Anekdoten über die Hungerlöhne, die Eitelkeiten, die amourösen Eskapaden, den Streik auf der Südamerika-Tournee und ihre heutigen Aktivitäten. Hinreißend! Und ist doch gerade mal erst ein dreiviertel Jahrhundert her – kommt einem aber vor wie eine Reise in ein fernes Märchenland! („Ballets Russes“, ein Film von Dayna Goldfine und Dan Geller, Revolver Entertainment, auf DVD, REVD 1920, 118 Minuten)

 

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