Deutschland-Premiere von „Heterotopia“: William Forsythe schafft das Theatrum perpetuum

Aus Sound und Movement entsteht die Körperoper

Hellerau, 26/06/2007

„Heterotopia“ – kürzlich im Festspielhaus Hellerau als Deutsche Erstaufführung gezeigt, Premiere war Ende Oktober 2006 in Zürich – bezeichnet im Titel das unvermeidliche Sich-Unterscheiden (Hetero-) der Wiedergabe einer Textstelle (Topos) von ihrem Original. Es ist laut Ankündigung „eine Meditation über das Wesen der Übersetzung und die Vergeblichkeit, die dieses Unterfangen stets begleitet.“ Und weiter: „Das Stück entfaltet sich in zwei obskuren Topografien unformulierten Begehrens. Die eine ist ein lärmendes, übernatürliches Oratorium, das sich unfassbarer aber verständlicher Sprachen bedient. Sie ist das Begleitorchester für die andere: eine merkwürdige Ansammlung lauschender Gestalten, deren Versuche, die verwirrende Musik zu begreifen, auf noch befremdlichere Handlungen hinauslaufen.“

Das sieht konkret so aus, dass das auf etwa 130 Zuschauer begrenzte Publikum aufgefordert ist, sich in zwei hintereinander gelegenen, nicht gleichzeitig einsehbaren Räumen zu bewegen. Im ersten Raum sind etwa 60 „Tische“ so zum Quadrat gestellt und teilweise gekippt, dass in ihrer Oberfläche verschiedenformatige Lücken bleiben und man vom Rand aus beim Herumgehen an manchen Stellen so weit unter die Podiumsebene blicken kann, dass man dort Tänzer auf dem Boden liegen sieht, während an anderen der Blick durch Spiegel zurückgeworfen wird. Aus diesen Lücken tauchen die Tänzer auf, tanzen zwischen oder auf den Podiumstischen und beziehen die unterschiedlichen Ebenen oft in ihre Bewegung ein.

Dabei produzieren sie stimmlich einen befremdlichen Sound, der anfangs so atavistisch wie ihre Körperzuckungen und -windungen anmutet. Man hört z. B. ein Gekrähe und sieht fragmentiertes Flügelspreizen. Irgendwie sind die stimmlichen Improvisationen aber auch verbal und bilden etwas wie Rede und Gegenrede, jedoch in einer nicht verständlichen Sprache. Dieser Sound schwillt auf und ab und zeitigt in wachsender und fallender Intensität virtuose Bewegungen quer über die Podiumsfläche, oft atemberaubend scharf am Rand der Lücken entlang. Dennoch wirkt die Ratlosigkeit ob solchen Tuns eine Zeit lang eher beschwerlich.

Des Rätsels Lösung ist in den etwa hundert auf einer Seite stehenden, gut dreißig cm hohen schwarzen Buchstaben zu suchen, die von zwei oder drei Tänzern immer wieder umgruppiert werden. Keines der dabei entstehenden Wörter existiert, doch alle sind phonetisch möglich. Die Performer verbinden die immer neu entstehenden, bedeutungslosen Wortgebilde im Klang ihrer jeweils anderen Sprachen, also auf der Basis etwa des Russischen, Japanischen oder Spanischen, zu Phantasiesätzen, deren akustische Realisierung gleichsam aus der Bewegung der Körper wächst bzw. ausgestoßen wird. Verbindende Leitfäden sind vorher konzipierte Szenen, deren dramatische Dynamik unserem Verständnis auf die Beine hilft.

Wie im ersten, so kommt auch im Raum dahinter ein Mikrophon, das in eine Satellitenschüssel eingebaut ist, zum Einsatz. Er ist eine leere Fläche, in der lediglich ein Klavier steht. Doch hier wird kein Sound produziert, sondern mit tänzerischer Bewegung aufgesogen. Die hochkomplizierte akustische Anlage überträgt simultan die im ersten Raum generierten Geräusche, doch Forsythe hat „ein paar Drähte rausgezogen“, um eine korrekte tänzerische Interpretation des Sounds in Raum eins, den er das „Orchester“ nennt, ebenso wie jede Kritik daran zu „verunmöglichen“. Allerdings setzt die körperliche Bewegung in Raum zwei, der „Bühne“, ihrerseits wieder Laute der Tänzer frei. Dabei fasziniert, wie konzentriert die Tänzer warten, bis die akustischen Impulse zu Bewegungsimpulsen werden, wie sehr sie also frei von willentlicher Bevormundung tanzen.

Allmählich entsteht ein Sog, sodass man in dem einen oder anderen Raum länger bei einer Szene verweilt, auch wenn aus dem anderen bereits spektakulärer Krach zu hören ist. Allmählich gewinnt auch die Installation der Tische und ihre Nutzbarkeit eine unbedingte Gültigkeit. Es bildet sich eine Atmosphäre, in der alles möglich ist: bedrohliche Spannung, Drama, Komik. Dabei tut sich unter den Performern beispielsweise Christopher Roman mit seiner virtuosen Storchen-Flucht hervor. Andere verblüffen durch ihre schier unglaubliche Beweglichkeit in der akustischen Hervorbringung. Längst gehen die Zuschauer frei umher und sind Bestandteil der Performance. Forsythe selbst beeinflusst, kaum bemerkbar, durch Modifizierung von Dauer und Lautstärke der einzelnen Sequenzen, dass sie in etwa gleicher Anzahl in beiden Räumen sind.

Irgendwann hat man das glückliche Gefühl, jedes „Wort“ einer Szene zu verstehen. Die Körper als gemeinsame Basis für Ton und Bewegung machen das jenseits aller Sprache möglich. Während der Zufallsfaktor im „Orchester“ durch die ständige Neugruppierung der Buchstaben integriert ist, entstehen hier aus der Bewegung immer neue Töne und dort aus den Tönen immer neue Bewegungen. Alles wird immer dichter und subtiler, zusammenhängender, man kann es eine große Körperoper nennen, die sich selber ständig neu hervorbringt. Wenn sie abbricht, wird man aus einem faszinierenden Zustand entlassen und weiß, dass beim nächsten Mal alles anders und doch wieder genau so sein wird.


Besprochene Aufführung: 23. Juni 2007 

 

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