Stadttheater wurde zum Mekka des zeitgenössischen Tanzes

5. TanzArt ostwest in Gießen

Gießen, 07/06/2007

Als Einstieg in den langen Tanzabend am Freitag im Theater im Löbershof (TiL) gab es eine Premiere: „Plastik – Tanzfigurationen nach Oskar Schlemmer“, eine Diplom-Inszenierung von Juliane Scherf (Hessische Theaterakademie, Frankfurt). Oskar Schlemmer wurde berühmt mit seinem „Triadischen Ballett“, in dem sich der Bauhaus-Lehrer mit dem Verhältnis von Figur und Raum auseinandersetzte. Bei Schlemmer wird der Tanzende zu einer Kunstfigur, die sich entlang von Raumvektoren oder wie an Fäden aufgehängt bewegt, bis hin zur Kombination von Mensch und Maschine. Seine aufwändigen Kostüme sind daher von geometrischen Formen geprägt, die den menschlichen Körper kaum noch erkennen lassen. Aus urheberrechtlichen Gründen ist eine Übernahme seiner Stücke oder Kostüme nicht möglich.

Juliane Scherf hat sich mit Schlemmers Prinzipien der Darstellung auseinandergesetzt und zusammen mit Corinna Mattner faszinierende Kostüme in Anlehnung an Schlemmer entworfen. Im ersten Teil tragen die drei Darsteller schwarze Ganzkörpertrikots, die nur das Gesicht freilassen, ansonsten durch weiße Ringel, Punkte und Längsstriche unterschieden sind. Die Figurinen agieren in einer Art großen Käfig, in dem lange Gummibänder die Raumdiagonalen und Längswände markieren.

Der zweite Teil des Abends wird bunter, die Kostüme unterscheiden sich deutlicher: Kai Guzowski tritt als Maschinenmensch auf, der sich nur im Radius seiner Metall-Corona bewegen kann. Mélodie Lasselin ist von gebogenen Plastikschläuchen eingerahmt, darunter ein elastisches Röckchen mit Kugelquasten, die bei schnellen Drehungen erstaunliche Effekte erzielen. Carla Pulvermacher erscheint als trippelndes Wesen im Ganzkörpergummikleid, das in der unteren Körperhälfte von unterschiedlich großen Querscheiben akzentuiert ist. Alle Drei treten mit einem je eigenen Geräusch- und Bewegungskanon auf, anfangs solo, dann gemeinsam und schließlich in Kombination mit ihren eigenen Figuren auf einer Leinwand. Die Leinwandfigurinen werden auch noch gedoppelt, das Tempo der Bewegungen wird immer schneller bis bei den Maschinenmenschen ins Stolpern geraten. Wie bei Motoren, die bei ständiger Überdrehung schließlich kaputt gehen. Eine spannende und sehr anspruchsvolle Inszenierung, schon wegen der ungewohnten Art der Präsentation. Eine Straffung wäre von Vorteil, auch im Hinblick darauf, dass „Plastik“ künftig zusammen mit „Wellensittiche“ an einem Abend gezeigt werden soll.

Weitere Produktionen unter dem Motto „Seitensprünge“ und „Spätschicht“ „Seitensprünge“ nennen die jungen Choreographen des Staatstheaters Wiesbaden ihr Programm, das erst am vorletzten Wochenende Premiere hatte. Darunter sind zwei Solos zu klassischer Musik, ein Pas de Deux zur Flamenco-Gitarre und das witzige Stück „... That Night“ rund um das Kennenlernen eines Paares (Daniela Severian, Demis Moretti) in einem Café, in dem populäre brasilianische für die notwendige Atmosphäre sorgten. Den Abschluss des Wiesbadener Programms machte die ungewöhnliche tänzerische Umsetzung (Matthew Tusa) eines traditionellen amerikanischen Spirituals, gesungen von der legendären Nina Simone. Zwei Tänzer (Maarten Peeters, Ariel Rodriguez) kämpfen ihren Lebenskampf und verehren die Predigerin (Rosa Romero), die mit erhobenem Zeigefinger auf einem Podest stehend, wortlos aus dem Buch der Bücher vorträgt. Beim Herabsteigen verwandelt sie sich in die Sünde der Verführung, doch kann diesem gotteslästerlichen Treiben offenbar Einhalt geboten werden; wie im Songtitel schon angedeutet: „Ain’t going to sin no more“.

In der „Spätschicht“ (22 Uhr) gab es weitere zwei Stücke, die von historischen Vorbildern inspiriert waren, ohne dass dies allerdings benannt wurde. Die Choreographin Melanie Clarke vom Laban-Centre London präsentierte mit Joana Simas das Stück „2“, dessen Grundprinzip - gleichförmige Bewegungen zu Minimal Music - Anne Teresa de Keersmaeker in „Fases“ (1983) durchdeklinierte. Die Compagnie Stefanie Goes aus Stuttgart steht mit ihrem Stück „Etwas von Menschen und Engeln“ zu einer Kammersymphonie von Schostakowitsch in der Tradition des deutschen Ausdruckstanzes. Die Choreographin beweist immerhin, dass sie keine Angst vor großem Pathos hat.

Léa Pérat von der Compagnie Ecchymose aus Hirson/Süd-Frankreich tanzte ihre eigene Choreographie zum Thema Grenzen. Zum verzerrten Sound einer E-Gitarre überschritt sie auf dem Boden markierte Grenzen in einem wilden Bewegungswirbel, um dann doch wieder in einem kleinen, aber offenbar beruhigenden, da vertrauten Quadrat zu landen.

Das Theater Görlitz erfreute am Ende des langen Tanzabends mit einer spritzig-witzigen Choreographie „Prachtstück“ der neuen Leiterin Gundula Peuthert. Auf die dynamischen Geigen des Balanescu-Quartetts agierten zwei Tänzerinnen (Helena Fernandino, Elena Sommer-Freundt) und ein Tänzer (Harald Wink) im locker-leichten Verbund. Zur Inszenierung gehörten direkte Blickkontakte und Meinungsäußerungen durch Mimik und Gestik. Mal trugen es die Frauen mit Missfallen, mal mit Humor, aber immer drehte es sich rund um das „Prachtstück“ von Mann.

Die diesjährige Tanzgala im Rahmen der 5. TanzArt ostwest war spitze. Durchgängig auf hohem tänzerischem Nouveau und zu sehr unterschiedlichen, aber den Tanz prägenden Musiken war eine große Bandbreite des zeitgenössischen Tanzes zu erleben. In perfekter Organisation folgte ein Höhepunkt auf den nächsten. Teils enthusiastischer Einzelapplaus und lang anhaltender Schlussbeifall für alle fünf beteiligten Kompanien demonstrierten die Begeisterung des Publikums. An dieser Stelle sei Dank ausgesprochen an Tarek Assam und das gesamte Organisationsteam, die einen solchen Tanzevent in Gießen ermöglicht haben.

Traditionsreiche Stücke bot die traditionsreichste Ballettgruppe dieser Gala, das Bohemia Balet der Staatsoper Prag. Die jungen Tänzer und Tänzerinnen der Abschlussklasse hatten bereits am Samstagnachmittag bei den „Masterclasses“ ihre Choreographien gezeigt, nun standen sie auch auf der großen Bühne, um zwei Stücke des neoklassischen Stils zu präsentieren: die „Evening Songs“ von Jiri Kylián zur Musik von Dvorák und eine Choreographie von Petr Zuska zum „Bolero“ von Ravel. „Es ist ein Glück, dass die Prager die Kylian-Choreographie mitbringen“, sagte Gießens Tanzdirektor Tarek Assam im Vorfeld der TanzArt, denn die Kosten für die Urheberrechte würden das Budget des Stadttheaters sprengen.

Der gebürtige Prager Jiri Kylián, der als Direktor des Nederlands Dans Theater zu Weltruhm gelangte, schuf die „Evening Songs“ zum 60. Geburtstag des Bohemia Balet. Darin klingt eines seiner Lebensthemen an, der tanzende Körper als Teil der Weltkultur. Deutliche Anklänge an regionale Folkloretänze werden in der poetischen Darbietung mit vier Tänzerinnen und drei Tänzern anschaulich. Die „Bolero“-Choreografie des Ballettdirektors Petr Zuska gehört zum Standard in Prag. Der ewige Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen wird im Ringen um einen großen Würfel (= Schicksal) symbolisiert. 14 schwarz gekleidete Tänzer/innen wirbeln dynamisch-kraftvoll um einen weiß Gewandeten, der, geradewegs der griechischen Götterwelt entstiegen, sich um Ruhe und Ordnung unter den Menschen bemüht.

Die Weiterentwicklung des neoklassischen Tanzes im Modern Dance war in den beiden Tanzstücken des Stadttheater Koblenz zu sehen. „Musings und Misadventures“ heißt das Stück des Nachwuchschoreographen Nick Hobbs, mit dem die sonntägliche Gala startete. In diversen Kurzszenen wurde Klaviermusik von Britten optisch ‚vertanzt’, mithin Melodieverläufe, Rhythmen und Dynamiken tänzerisch elegant übersetzt. Nach demselben formalen Prinzip arbeitet auch Anthony Taylor, der Leiter der Tanzkompanie Koblenz. Unter dem Titel „Zwielicht“ zeigen 11 Tänzer/innen menschliche Befindlichkeiten, von Archetypen ist in der Beschreibung die Rede, wie sie in dem gleichgeschlechtlichen Pas de Deux von zwei Tänzern mit großer Geste dargeboten werden.

Ausgesprochen pfiffig waren die Duette aus Graz und Mannheim. Livia Hyllova und Michal Zabavik von der Alpha Group Graz zeigten in „Time Extensions“ einen tänzerisch wie inhaltlich bemerkenswert anderen Umgang mit dem Thema Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Choreographie von Darrel Toulon, Leiter und Gründungsmitglied der Alpha Group, verharrte nicht bei Geschlechterstereotypen, sondern wechselte die Position von Dominanz und Stärke, zeigte intensive Momente von Liebe und Zärtlichkeit. Das Stück war zudem geprägt von einer für den Tanz selten ausgewählten Musikrichtung: Piano-Jazz zur ausdrucksstarken Stimme von Rachelle Ferell.

Zu Publikumslieblingen avancierten eindeutig Luches Huddleston jr. und Luis Eduardo Sayago vom Ballett am Staatstheater Mannheim. Im lockeren Freizeitlook der Streetdancer zeigten die beiden die Huddleston-Choreographie „A different Conversation“, die mit Blicken, Gesten und Körpern geführt wurde. Wie witzig man ohne Worte und ohne Musik auch im Tanz sein kann, das haben die beiden in ihrem freundschaftlichen Zwiegespräch überaus deutlich gemacht. Wer an diesem Vormittag nicht dabei war, hat eindeutig was verpasst.

Für die Unermüdlichen ging es am Sonntagabend noch weiter mit der TanzArt. Das Theater im Löbershof (TiL) war bis auf die letzten Winkel ausgefüllt, so viele Tanzbegeisterte wollten die letzten Aufführungen noch erleben. „Welcome to Heaven“ titulierte die Gruppe Stahltanzwerk aus Lüneburg (Heidrun Stahl) ihr Stück und zeigte, wie bürokratisch es auch im Vorraum des Himmels zugeht.

Mit einer überaus dynamischen Choreographie überraschte die 6-köpfige Gruppe aus Braunschweig (David Williams). Unter dem Titel „Physical Graffiti“ wurden wahrlich explosive Körperbilder gezeichnet, die mit begeistertem Applaus honoriert wurden. Aus London war die Dog Kennel Hill-Gruppe gekommen, die ihren Namen vom Hundezwinger in ihrer Straße ableitet. Das gezeigte Stück „A Cross and then Across“ wirkte sehr hermetisch: ein Paar agierte neben einer Solistin, die Ritual-Symbolik erschließt sich nur schwer.

Die Compagnie Irene K. aus Belgien (Irene Kalbusch), die im vergangenen Jahr mit ihren Außenraum-Performances begeisterte, zeigte in diesem Jahr ihr neues Zweipersonenstück „Inside & Out“, in dem David und Denise zwischen Emotion und Körpererfahrung pendeln. Das Experiment mit dem eigenen Körper geschieht vor teils hämmernden bis unheimlichen Toncollagen, etwas mehr Gesamtdramaturgie täte gut.

Das Ende des Festivals bildete – wie symbolisch! – eine Choreographie über das Ende des Lebens: „RequiemMozartTanz“ vom Theater Nordhausen (Jutta Wörne). Den 12 jungen Tänzern und Tänzerinnen hätte man eine größere Bühne gewünscht, ihre Präsenz bleibt jedoch ungebrochen. In hautfarbenen Kostümen, die je ein barockes Zierelement wie Rüsche oder Schleife trugen, agierten sie über lange Strecken in geschlossenen Gruppenbildern. Mozarts Requiem ist eine berührende Musik, deren elementare Wirkkräfte in dieser beeindruckenden Choreographie personifiziert sind: Leben und Tod, Angst und Kampf.

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