Zwischen neurotischem Modernismus und klassischer Moderne

Stephan Thoss und Ralf Dörnen choreografieren Béla Bartók und Carl Orff

oe
Essen, 15/10/2006

Eine interessante Werkkoppelung bietet der neue Ballettabend im Aalto Theater: zwei musikalische Schlüsselwerke der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts – Béla Bartóks „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“, uraufgeführt vor ziemlich genau dreißig Jahren, und Carl Orffs „Carmina Burana“, vom gleichen Jahrgang 1937. Welten trennen die beiden Komponisten und ihre Stücke, die längst zu Repertoireklassikern geworden sind. Ich habe sie gern einmal wiedergehört, zumal da beide exzellent musiziert wurden, richtig live (und der Aufwand für Orff ist ja beträchtlich), unter der befeuernden Leitung von Rasmus Baumann, mit ansteckendem Enthusiasmus vom Orchester, dem Chor und den Solisten.

Noch ein weiteres Jubiläum fiel mir auf. Vor genau fünfzig Jahren debütierte das neu zusammengestellte Wuppertal Ballett mit der Bartók-Musik im damaligen Ersatzquartier der Wuppertaler Stadthalle. Es war die Visitenkarte der Erich-Walter- und Heinrich-Wendel-Kollaboration, die zu einer der programmatischsten Produktionen des sich allmählich herauskristallisierenden Wuppertaler Stils geworden ist, seiner Musikalität, seiner lichten Strukturklarheit und seines architektonischen Konstruktionsprinzips. Die sich dann auch bei den späteren Übernahmen ins Repertoire der Rhein-Oper und der Städtischen Oper Berlin bewährt haben.

Die neue Essener Version stammt von Stephan Thoss. Er nennt das halbstündige Ballett „Solitaire“, zeichnet selbst für die Choreografie, die Bühne und Kostüme verantwortlich und hat in einem umfangreichen Interview erklärt, dass es ihm hier um das Alleinsein und den Verlust der Sehnsucht geht, „ein Gehen durch eine Fantasiewelt, die über das äußere Moment die kleinen verschlossenen Türen der inneren Schlösser öffnet, um durch diese wieder zu erkennen, was einen wirklich umgibt.“ Na ja! Ob wenigstens die Tänzer selbst wissen, was sie da zu tanzen haben, in kleinen, kammertänzerischen Episoden, meist an der Wand entlang, oft mit dem Rücken zum Publikum, ihre unterschiedlichen Befindlichkeiten, Frustrationen und Sehnsüchte?

Thoss ist ein viel zu musikalischer Choreograf, um sich gegen die Musik zu stellen. Für mich ist sein verzappelter Radebeuler Psycho-Modernismus indessen weit weg von der unendlich ruhigen Serenität und der glasklaren Transparenz der Musik (ähnlich seiner Stilverfehlung in „Schwanensee“). Hier klaffen musikalisches und choreografisches Material weit auseinander. Vielleicht sollte er sich mal mit einem Strindberg-Sujet einlassen! Und danach dann also „Carmina Burana“, von Ralf Dörnen in einem todschicken Bühnenraum von Manfred Gruner (brillant ausgeleuchtet von Jürgen Nase) als großes Kompanieballett arrangiert – in einem modernen Stralsund-Greifswalder Klassizismus (was immer das sein mag!), mit einem läppischen Ausrutscher (der plundrige sterbende Schwan) – insgesamt durchaus eindrucksvoll, gerade auch in den kompakten Massenszenen – eine klassisch gewordene Moderne, ästhetisch vielfach berückend schön anzusehen – mit kräftigem, kalorienhaltigen Tänzerfutter zubereitet und von den Essener Tänzern, den Solisten wie dem Corps, mit viel Gusto serviert und vom Publikum entsprechend goutiert.

Eigentlich schade, dass uns die überwiegende Zahl der jüngeren Kritikerkollegen diesen fulminanten Theaterspaß so gründlich zu vermiesen entschlossen ist. Ich erinnere mich noch heute gern an die seinerzeit viel aufgeführte Version von John Butler (kennt den heute überhaupt noch jemand?) und vor allem natürlich von Jean-Pierre Ponnelle (ganz zu schweigen von vielen anderen – auch von Gerhard Bohner). Was waren das für aus allen Nähten berstende Theaterabende (im Gegensatz zu so vielen heutigen Verkrampfungen). Dass sich das auch heute noch ereignen kann, dafür ist die Essener Einstudierung ein glänzender Beweis – übrigens auch im benachbarten Düsseldorf zu beobachten, wo Youri Vamos‘ „Carmina Burana“ seit Jahren auf der Hitliste des Repertoires stehen.

 

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