Zelte tanzen wieder

„Return to Sender“

Berlin, 17/10/2006

Helena Waldmanns Inszenierungen zählen wegen ihrer großen „Not-Wendigkeit“ zu den derzeit politisch bedeutsamen Arbeiten im Tanz. Im Anschluss an das Internationale Fadjr Theaterfestival 2004 in Teheran gab sie als erste westliche Choreografin einen Workshop für Frauen der Islamischen Republik. Aus diesem Zusammentreffen entstand mit Unterstützung des Dramatic Art Centers Teheran und des Goethe Instituts das Stück „Letters from Tentland“. Ein Jahr später, auf dem Fadjr Festival 2005, fand die Uraufführung statt. Der Siegeszug der Zelte reiste ein Jahr lang um die Welt (43 Vorstellungen in 17 Ländern).

Für das Festival Montpellier Danse 06 kreierte Helena Waldmann (Jg. 1962) ein neues Stück, das den Blick auf das Thema grundsätzlich änderte. Die iranischen „Briefe aus dem Zeltland“ werden nun von Exil-Iranerinnen überschrieben, beantwortet und „Zurück zum Absender“ geschickt. Nach der Deutschlandpremiere im September 2006 in Weimar war die Produktion „Return to Sender“ jetzt vom 14.-15 Oktober 2006 in vier Vorstellungen im neuen Spielort RADIALSYSTEM V am Ufer der Spree in Berlin zu erleben.

In „Return to Sender“ agieren sechs in Berlin lebende Exil-Iranerinnen in genau den Zelten, die ihre Kolleginnen aus Teheran in „Letters from Tentland“ zurückgelassen haben. Frauen in Zelten, die wie Briefumschläge die Botschaften der in ihnen rhythmisch agierenden Exil-Iranerinnen an ihre fernen Schwestern im Tentland-Iran freigeben. „Kommen Sie in unser Zelt!“, rufen sie durch den Sehschlitz eingangs ins Publikum. Doch es kommt niemand. Nach sechzig Minuten wird es zu einer unerwarteten Interaktion zwischen den Künstlerinnen und dem (männlichen) Publikum kommen. Doch da beginnt eigentlich ein anderes Kapitel.

Sechs fiktive Briefe an die iranischen Performerinnen in Teheran gliedern die Szenenfolge, in der jene farbigen Zelte ihre beredte Metaphorik behaupten. Zelte sind Gefängnis und persönlicher Schutzraum, Ort der Träume und Schleier der Anonymität. Frauen werden auf Passbildformat reduziert. Doch Helena Waldmann gibt ihren Performerinnen die Kraft ihrer Stimmen, die in den kullernden, mal auf dem Kopf mal auf den Füßen stehenden Zelten bohrende Fragen stellen, schreiend oder stumm, eruptiv oder ganz langsam zusammensinken. Umso größer der Moment, da alle mit aus den Schlitzen tastenden Armen das Zelt der Nachbarin berühren, sich gegenseitig stützen. Die Angst vor drohender Abschiebung in einem Europa, das den Frauen als Ort der Freiheit galt und sie vielfach nur Unfreiheit spüren lässt, die im Exildasein mit einem Verlust von Persönlichkeit gepaart ist treibt sie um, lässt sie ausflippen oder kraftlos wie Blätter zu Boden sinken. Gibt es Normalität für Exilantinnen?

Die endlosen tiefen Verbeugungen, werden als Verbiegungen kenntlich. Plötzlich ist ein Zelt leer, nur das Gestänge steht in der Mitte. Eine ist der Welt abhanden gekommen. Angst. Erstarrung. Eine Andere schiebt sich mit ihrem Zelt unter das Gestänge. Das unstete Leben im Unbehausten dauert an. Kein Platz für sentimentale Erinnerungen. Anrennen und Anschreien gegen die Sehnsucht nach Heimat. Sololied und religiöser Hardrock gegen die Angst. Der große weite Bühnenraum mit der kleinen Zeltstadt wird immer wieder von Film- und Textsequenzen überblendet. Familienfotos und heimatliche Stadtgeräusche drängen sich visuell in die Welt der Bewohnerinnen in den Exilzelten, die die Erinnerungen und das Anderssein aushalten und ertragen müssen und zugleich nach einem Ausweg, nach ihrem Platz im Leben suchen. Zelte wirbeln über die Bühne. Plötzlich raffen die Zeltfrauen die Zeltgehäuse, erstmals werden nun Füße und Beine sichtbar. Sie zerren am Gestänge, taumeln ruckartig und entledigen sich der Panzer-Schutzhaut. Sanam, Javeh, Taies, Lila, Maryam und Niloufar, sechs junge Frauen in Rock und Jeans, blicken ins Publikum. Doch da beginnt eigentlich ein anderes Kapitel.

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