„irrsinn“ macht Sinn

Tanzuraufführung der cie. toula limnaios

Halle, 22/05/2006

Ein Schlussbild von doppeldeutiger magischer Poesie und Eindringlichkeit. Im großen Rechteck stehen die Akteure und halten ihre eigenen schwarz-weiß Porträtfotos vors Gesicht, die langsam wie Blätter zu Boden fallen. Die Leere lauert. Doch die griechische Choreografin Toula Limnaios positioniert ihre wunderbar intensiven Tanzdarsteller (Jiri Bartovanec, Eliane Krauer, Elik Niv, Carlos Osatinsky, Ute Pliestermann, Katja Scholz, Nefeli Skarmea, Hironori Sugata) direkt vor den zwei langen Zuschauerreihen, so dass sich ihre zuckenden Körper mit den plötzlich magisch rotglühenden Kastanien außerhalb der HALLE in den großen Fenstern spiegeln. Acht Menschen, kraftvoll und verletzbar wie Bäume, tauchen ins Dunkel. Atemloser Stille folgte zu recht der starke Beifall der Zuschauer.

„irrsinn“ – cie. toula limnaios´ Uraufführung zum 10-jährigen Bestehen der Kompanie wirkt wie eine präzise filmische Nahaufnahme, die ein feines Geflecht kontrastreich entwickelter Szenen spinnt, das den einzelnen Menschen in die ambivalentesten Bestandteile seiner Existenz aufsprengt. Toula Limnaios tastet sich aus der skulpturalen Erstarrung in kontrapunktisch entwickelte, rhythmisch genau mit- und gegeneinander geführte Parallelexistenzen. Die Komposition von Ralf R. Ollertz gebiert aus dem verzerrten „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ einen assoziativen Klangraum, der den choreografischen Bildern um menschlichen Gesichtsverlust und sprachliche Verkümmerung bewegenden Ausdruck verleiht.

Die nahtlos ineinander fließende 70-minütige Szenenfolge knüpft über kleinste Bewegungsänderungen, bewusste Dopplungen und räumliche Kontrastaktionen eine Kette von intensiven Fragen an die widersprüchliche Gleichzeitigkeit menschlichen Tuns. Frauen (er)tragen Männer und umgekehrt, Menschen, die sich gegenseitig mundtot machen oder mit Geschwätzigkeit malträtieren, sich als Anziehpuppen missbrauchen oder sich in eine Lichtnische flüchten, um dem Absturz zu entgehen. Ein bildstarker, dennoch leiser Tanzabend am Nerv einer aus den Fugen geratenden menschlichen Spezies.

Mit „irrsinn“ ist die cie. toula limnaios in ihrer eigenen Spielstätte TanzBühne HALLE eine erste Adresse für modernen Tanz made in Berlin.

 

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