Der Griff in die Papiertuchschachtel

Thierry Malandains Ballet Biarritz

Ludwigsburg, 12/04/2006

Für Choreografen gibt es eine goldene Regel: Wählt man eine Handlung, ein Thema oder eine Musik, die schon mal erfolgreich in Tanz umgesetzt wurden, sollte man doch schon die alte Manier überflügeln und eine eigenständige wie originelle Fassung abliefern, die dem Ganzen neue Perspektiven und Erkenntnisse abgewinnt. Leider ist dem französischen Tanzmacher Thierry Malandain und seinem Ballet Biarritz keines von beidem gelungen, obschon die 15 Tänzer aus dem Baskenland durchaus mit technischer Virtuosität und physischem Feingefühl aufwarteten.

Als erstes wagt sich Malandain an Debussys „L‘après-midi d‘un faune“, den gleichnamigen choreografischen Erstling des Jahrhunderttänzers Waslaw Nijinski, der damit vor mehr als 90 Jahren für Furore sorgte, indem er sich vom akademisch-klassischen Ballett ab- und dem Ausdruckstanz zuwandte. Viele versuchten sich seitdem an Debussys Musik und dem Stoff, darunter auch Jerome Robbins und John Neumeier. Große Namen also, mit denen sich der Franzose Malandain misst, wenn er seinen fast nackten Faun auf eine überdimensional große Schachtel mit Hygienetüchern bettet, ihm die Nymphen und den griechisch-mythologischen Dekor der Urfassung nimmt und ihn mit einem Papiertaschentuch und riesigen Tüllblumen statt mit einem Schleier spielen lässt. Dazwischen leckt sich der Faun die Glieder, kratzt sich mit den Füßen oder springt wie ein Känguru vom tiefen Jazz-Plié in die Streckung, was immer wieder in phallische, allzu platterotische Bewegungen mündet, bis der Faun im Spagat seinen Tod findet.

Nicht anders im zweiten Stück, dem „Sterbenden Schwan“, ursprünglich als Solo für die russische Ballettlegende und Ballerina Anna Pawlowa geschaffen: Auch hier drängen sich plumpe Erotik und effektheischende Fleischlichkeit immer wieder in den Vordergrund und untergraben dreist die Ästhetik der Musik. Malandain verwässert das Solo zu einem Terzett, in dem jeder der drei Schwäne im schwarzen Lurex-Trikot erst den Tod erleidet, dann wieder aufersteht, um im Kanon mit den Kolleginnen wieder und wieder dasselbe zu erleben.

Freilich zeigt sich hier der französische Choreograf anfangs durchaus musikalisch und glänzt mit einigen innovativen Tanzmodulen, die das Schwanenmotiv zitieren. Allerdings werden diese kaum konsequent fortgeführt, die Choreografie verliert schnell den Bezug zur dramatischen Musik von Camille Saint-Saëns: kein Todeskampf, kein Ausdruck, kein Pathos –  nur eine Montage von belanglosem Schrittmaterial irgendwo zwischen Trippeln und Bodenrollen.

Noch unmusikalischer wird es dann im dritten Stück des Abends: Malandain vergreift sich hier an Beethovens „Die Geschöpfe des Prometheus“ und will dazu die „Geschichte der Menschheit“ erzählen, die sich für ihn „in der Geschichte des Tanzes spiegelt“. Für den Zuschauer bedeutet das: 70 nicht enden wollende Minuten, die mit dem ewig gleichen Schrittvokabular gefüllt sind und die Tänzer, auf einer leeren Bühne in hautenge, schwarze Glitzerbodys gehüllt, chronisch unterfordern. Mal lässt Malandain Kriege, mal Liebe stattfinden, mal gibt es einen Ausflug in die tänzerische Moderne zu Isadora Duncan, mal zu Adam und Eva mit einem transparenten Plastikball als Apfel. Immer begleitet vom Watschelgang der Tänzer, V-Armen sowie pausenlos wiederholten Broadway-Reihen. Alles in allem eine Odyssee der Plattitüden, ohne Witz, ohne Esprit – gut, dass da noch die Erinnerungen an den Vortag, an den berückenden Spuckschen „Sandmann“ waren.

 

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