Im Rückblick auf die Frühlingsweihe des europäischen Nachkriegsballetts

Zum Tod des Bühnen- und Kostümbildners Jean-Paul Vroom

oe
Stuttgart, 06/04/2006

In der Stunde vor Mitternacht ein Anruf aus Amsterdam. Am Telefon: Hans van Manen, der mir mitteilt, dass Jean-Paul Vroom gestorben sei, lange Zeit sein exklusiver Bühnenbildner, dreiundachtzigjährig – nach Jahren des sanften Hinüberdämmerns, liebevoll betreut und umsorgt von seiner Frau Ankie. Und da sind sie wieder, die Erinnerungen – an die beiden, die unzertrennlich schienen, und an die vielen nächtlichen Stunden nach den Premieren des Nederlands Dans Theaters und des Het Nationale Ballet in Amsterdam und Den Haag und auf der Autobahn zwischen beiden Städten, denn gefeiert wurde immer in Amsterdam. Und so war die nächtliche Stunde genau der richtige Zeitpunkt für die Übermittlung der Trauerbotschaft.

Und doch überwogen in unserem Gespräch, im Rückblick auf die „Gründerjahre“ der beiden holländischen Kompanien, sofort die glücklichen Töne – da war sie wieder, die Aufbruchsstimmung, an der sie alle Anteil hatten, dieser Kreis um van Manen, mit Jean-Paul und Ankie, dem väterlichen Freund Benno Premsela, Manfred Gräter vom Westdeutschen Rundfunk und Fernsehen, nebst Carel Birnie, dem Direktor des NDT, mit Marian Sarstädt, Alexandra Radius und Han Ebbelaar, und, nicht zu vergessen, dem unerwüstlichen Gérard Lemaître. Tempi passati – und doch so erinnerungsträchtig, als wär‘s gestern gewesen.

Ich wollte Genaueres über Jean-Pauls Leben wissen und schlug deshalb im Register von Eva van Schaiks umfassender Biografie „Hans van Manen – Leben & Werk“ von 1997 nach, hörte aber bei dem fünfzigsten Seitenverweis auf und griff lieber auf Jochen Schmidts „Der Zeitgenosse als Klassiker“ aus dem Jahr 1987 zurück, der eindeutig feststellt: „Hinsichtlich des Bühnenbilds zerfällt van Manens Schaffen in zwei Perioden: die Zeit ohne und die Zeit mit Jean-Paul Vroom. Von den 67 Balletten, die Hans van Manen bislang schuf oder an denen er beteiligt war, hat Jean-Paul Vroom 33 ausgestattet.“ Es waren vor allem die siebziger Jahre, in denen Vroom das Erscheinungsbild der Van-Manen-Ballette entscheidend mitgeprägt hat – und zwar, und hier muss ich Schmidt noch einmal zitieren – „anders als Balanchines Regelbühne, die den Tanz lediglich nicht behindert und durch kein schmückendes Beiwerk von ihm ablenkt, sind van Manens Bühnen, dank der Qualität seiner Bühnenbildner, nicht nur darauf aus, sondern auch in der Lage, die ästhetische Qualität des Tanzes zu verstärken und die Wirkung der Choreografie künstlerisch zu überhöhen.“

Und so lassen wir sie denn noch einmal vor unserem geistigen Auge Revue passieren, die Ballette, die sich als Gemeinschaftsproduktion von van Manen und Vroom unserem Gedächtnis förmlich eingebrannt haben – eine Auswahl dieser Ballette, von „Situation“ (1970) über „Große Fuge“ und „Keep Going“ (1971), „Twilight“ und „Daphnis und Chloe“ (1972), „Septet Extra“ und „Adagio Hammerklavier“ (1973), den „Four Schumannn Pieces“ (1975), dem Mendelssohn-„Oktett“ und den „Liedern ohne Worte“ (1977) und den vielleicht stärksten Erinnerungsbildern der Häuserschluchten von Buenos Aires in den „Fünf Tangos“ (und ein bisschen stolz bin ich schon, dass er auch das Ballett ausgestattet hat, das van Manen einem gewissen oe gewidmet hat: „Sacre du printemps“, 1977).

Ich kann nur jedem empfehlen, die Seiten 173 bis 176 in Schmidts Buch noch einmal nachzulesen, um sich einen Begriff von dem kreativen Anteil Vrooms an den Balletten van Manens zu verschaffen. Ihm verdankt van Manen auch seine intensive Hinwendung zur Fotografie, zu Film und Video. Für mich aber sind die Jahre Vrooms mit van Manen, dem NDT und dem HNB, die Jahre – nicht eines „Sacre du printemps“ im Sinne eines Frühlingsopfers, sondern einer „Consécration du printemps“, einer Frühlingsweihe des europäischen Nachkriegsballetts.

Am Rande unseres nächtlichen Telefonats teilte mir van Manen übrigens mit, dass er gerade aus St. Petersburg zurück sei, und was es für ihn bedeute, als erster holländischer Choreograf ein Ballett der Kompanie des Mariinsky-Theaters einstudiert zu haben, und zwar seine „Trois Gnossiennes“ von 1982, mit Uljana Lopatkina. Ich kann es ihm nachempfinden, denn ein Ballett im Repertoire des Mariinsky zu haben, dürfte für jeden Choreografen die Krönung seiner Karriere sein – wie wenn der Papst ihm persönlich seinen Segen erteilt hätte.

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