Die Geometrie der Bewegung

Das Tanztheater Nürnberg auf den Spuren Galileo Galileis

München, 14/03/2006

Kann man die Visionen eines Naturwissenschaftlers in Tanz fassen? Daniela Kurz und ihre Tänzer vom Staatstheater Nürnberg haben sich von Physikern des Max-Planck-Instituts unterweisen und anhand von Exponaten im Germanischen Nationalmuseum in die exakten Beobachtungen und Messungen des Genies einführen lassen, das unser Denken und unser Weltbild revolutioniert hat. Galileo Galilei, dem schon Brecht ein Theaterstück gewidmet hat, betrieb seine bahnbrechenden Forschungen bis zur Erblindung. Und obwohl er unerschütterlich an Gott glaubte, geriet er mit der Kirche in Konflikt. Grund für die intensive Beschäftigung mit seinen geistigen Errungenschaften war ein ursprünglich als Abendfüller gedachtes Tanzprojekt der Ballettchefin.

Mit ihrer Vorliebe für ungewöhnliche Themen schreibt sie seit 1998 in der mittelfränkischen Metropole Tanzgeschichte. Fast ebenso typisch wie die Abstraktheit bzw. Ideenbreite hinter ihren Werken ist ihre enge Zusammenarbeit mit anderen Choreografen oder Kunstschaffenden. Und so wurde aus Galileo Galilei (uraufgeführt am 11. März 2006) konsequenter Weise ein doppeltes Experiment, nachdem Paolo Rosa mit seinem Mailänder Studio Azzurro, das schon bei „Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein“ beteiligt war, für die Mitarbeit gewonnen werden konnte. Wie Galilei seinerzeit in der Wissenschaft und in der Religion zwei grundverschiedene, sich ergänzende Diskurse über die Welt sah, so führt hier ein- und dieselbe Inspirationsquelle zu zwei gänzlich unterschiedlichen Teilstücken, die allein durch die Ausstattung von Frank Albert und die zweifache Besetzung von Sergiu Matis als Galileo Galilei ihren Zusammenhalt finden.

Bildgewaltig und in eine sphärische Geräuschkulisse (Tommaso Leddi) getaucht, setzt die Künstlergruppe Studio Azzurro an einem frühen Punkt in der Biographie Galileis an: „Studio per l‘Inferno“ heißt seine poetische Vorlage, in der er – bezugnehmend auf Dante – eine Vermessung der Hölle als streng geometrische Struktur vornimmt. Auf dem steilen Plateau der Bühnenschräge, überragt vom flimmernden Kosmos eines Videoscreens, beginnt Galilei seine Reise im Universum. Projizierte Planetenbilder geraten durch seine Drehungen und Armschwünge in Bewegung, bis ein Gesicht, eine Hand, lehmig zerfurcht, sich abzeichnen. Wie leibhaftig gewordene Gedanken interagieren weitere Tänzer mit geometrischen und alphabetischen Lichtapplikationen.

Laut Szenenfolge dringen sie durch Luzifers Nabel in die Hölle ein. Noch bevor ein irdener Wasserfall die dort kriechenden, nacktschlammigen Kreaturen hinwegspült und in einem meditativen Ausklang Galileis erblindendes Auge bis zu seiner Auflösung anschwillt, findet die interaktive Videoinstallation an zentraler Stelle ihren Höhepunkt: Galilei, dem Urteil des Klerus ausgesetzt, bringt mit seinen Sprüngen ein gigantisches, farbenprächtiges Kirchenfenster zum Bersten. Selten war die Verbindung von Tanz, Photografie und neuen Medien so schlüssig – auch wenn die inhaltlichen Details erst durch die vorherige Werk-Einführung bzw. das Studium des Programmhefts wirklich nachvollziehbar werden.

Die kirchliche Macht symbolisieren in dem nach der Pause folgenden reinen Tanzstück von Daniela Kurz lange schwarze Mäntel. Shang-Chi Sun (Pendel-Papst) umtanzt einen von der Decke pendelnden Lichtstab. Ein szenischer Effekt, auf den Galileis an der Rampe in ein papierenes Fernrohr gesprochene Widerrufungsparaphrasen folgen. Musikalisch untermalt von Klassikern der Avantgarde (Cage, Frith, Giger, Reich, Xenakis) passiert daraufhin wenig mehr als vier ausgefeilte, choreografisch variantenreich gelöste Bewegungsstudien zu den Phänomenen Pendel, Freier Fall, schiefe Ebene und dem Prinzip von Messungen. Alles kulminiert in einem planetengleichen Rotieren um die eigene Achse und die Papstfigur in der Mitte. Doch anstatt mit diesem starken, wenn auch etwas zu lang geratenen Bild zu enden, setzt Kurz noch etwas Kitsch obenauf: Am Schnürchen lässt der Titelheld den Globus wie einen Gasballon kreisen.

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