Der Fall Wiesbaden

Ein paar Nachgedanken zu den Ballettplänen

oe
Stuttgart, 13/09/2006

Just in dem Moment, in dem die (deutsche) Ballettwelt über die Situation am Staatstheater Wiesbaden diskutiert, erscheint bei EuroArts eine DVD „Divine Dancers – Live from Prague“ (2054708), 90 Minuten der Galavorstellung im Nationaltheater am 11. Januar 2006, mit Tänzern aus Russland, Frankreich, Holland und Deutschland. Das Programm: die übliche Auswahl von Gustostückerln aus Klassik und Moderne. Ein einziges Werk komplett: José Limons „The Moor‘s Pavane“, getanzt von Mitgliedern des Balletts der Oper von Bordeaux, mit Charles Jude, ihrem Chef, als doch sehr gewöhnungsbedürftigem vietnamesischen Ho-Chi-minh-Othello. Aus Berlin ist Polina Semionova als MacMillans Manon beteiligt – mit Igor Zelensky als ziemlich fadem Des Grieux. Den Clou aber steuert, kurz vor Schluss, der gerade achtzehnjährige Daniil Simkin aus Wiesbaden mit Ben van Cauwenberghs „Les Bourgeois“ (nach Jacques Brel) bei, der jetzt sein erstes Engagement an der Wiener Staatsoper angetreten hat (und dort hoffentlich nicht nur in der „Puppenfee“ beschäftigt ist).

Dies ist bekanntlich van Cauwenberghs Hit-Nummer eins, mit der schon andere Tänzer reüssiert haben (in Stuttgart beispielsweise Eric Gauthier). Simkin legt das hin mit einer Art augen- und fußzwinkernder Chuzpe – ein tänzerischer Komödiant mit noch rotzjungenhaftem Charme. Schon zuvor hatte er zusammen mit seinem Vater Dmitri Simkin in Stephan Thoss‘ „My Way“ reüssiert, und auch van Cauwenbergh war schon einmal zum Zuge gekommen, mit seinem Männer-Duo „Amsterdam“, ebenfalls zu einem Chanson von Brel, getanzt von Simkin père und seinem Wiesbadener Tänzerkollegen Marek Tuma. Ganz aufschlussreich, diese Gegenüberstellung von van Cauwenbergh und Thoss als amtierendem und designiertem Wiesbadener Ballettchef! Ist ja toll, was sich Manfred Beilharz als Intendant und Stephan Thoss als Ballettdirektor am Hessischen Staatstheater alles vorgenommen haben, und man kann ihnen nur die Daumen drücken.

Offenbar wittert Beilharz die Chance, im Bermuda-Dreieck zwischen dem verwaisten Frankfurt, Mainz und Darmstadt nun Wiesbaden zum dominanten Ballett-Fixpunkt auszubauen. Die Chancen stehen nicht schlecht. Wiesbaden hat sich in der Vergangenheit schon mehrfach als ausgesprochen ballettaufgeschlossen erwiesen. Ich erinnere mich noch gern an eine der besten „Coppélia“-Vorstellungen, die ich dort gesehen habe – mit Birgit Keil und Heinz Clauss in der Inszenierung von Imre Keres, der mit seiner Frau Clara Gora dort immer wieder höchst beachtliche Vorstellungen zustande gebracht hat (unter anderem auch eine „Les Noces“-Produktion von George Skibine mit dem blutjungen Falco Kapuste).

Und wen haben Alfred Erich Sistig als Intendant und sein ballettbesessener Chefdramaturg Rainer Antoine nicht alles nach Wiesbaden geholt – von den Bolschoi- und Kirow-Russen bis zu den frühen Gastspielen des Nederlands Dans Theaters (Antoine ist ja dann nach Ludwigshafen gegangen und hat sich dort weiterhin intensiv für die Russen eingesetzt und ist, wenn ich mich recht erinnere, noch zum Ehrenmitglied des Bolschoi-Theaters ernannt worden, bevor er 1985 achtundvierzigjährig gestorben ist). Von van Cauwenbergh aber werden wir sicher auch nach seinem Weggang aus Wiesbaden am Ende der laufenden Spielzeit noch hören. Sie sind nicht allzu zahlreich, die Ballettchefs, die es als Choreografen mit seiner Vielseitigkeit aufnehmen können.

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