Der Dritte im Bunde

Dmitrij Schostakowitsch zum 100. Geburtstag

oe
Stuttgart, 25/09/2006

Was Mozart und Schostakowitsch gemeinsam haben? Das Jubiläumsjahr 2006! Mozart wäre 250 Jahre alt geworden (kann man sich das vorstellen?), Schostakowitch hätte heute seinen 100. Geburtstag feiern können (auch das ist schwer vorstellbar – bei all den Demütigungen und Verunglimpfungen, denen er ausgesetzt war, auch wenn er nicht schon knapp neunundsechzigjährig 1975 gestorben wäre). Mozart war ein leidenschaftlicher Tänzer, und er hat enorm viel Tanzmusik komponiert – für den Ballsaal. Fürs Theater hingegen nur die etwas allzu wörtlichen „Les petits riens“, 1778 in Paris, für den großen Noverre, der sich aber kaum bewusst gewesen zu sein scheint, mit was für einem Genie er es da zu tun hatte. Und dann natürlich 1781 die große Ballettmusik für die Oper „Idomeneo“ in München, die von unseren ganz dem Zeitgeist verpflichteten Regisseuren meist gestrichen wird.

Ja, wenn Mozart einem Balanchine begegnet wäre! Schostakowitsch auf dem Tanzparkett: das übersteigt die kühnste Phantasie, wenn man sich die von ihm überlieferten Porträts ansieht! Dabei kribbelte es in seinem Blut von tänzerischen Energien, scheint er geradezu unter tänzerischem Bluthochdruck gelitten haben, so dass selbst viele seiner konzertanten Werke von tänzerischem Esprit geradezu zu bersten scheinen. Schostakowitsch hat sich gerade in seiner so überaus schöpferisch-vitalen Frühzeit – als Zwanzig- und Dreißigjähriger – wiederholt dem Ballett zugewandt und mit den besten der damaligen Choreografen zusammengearbeitet: Kaplan, Wainonen, Jacobson, Lopuchow. Doch hatte er das Unglück, mit den Libretti bei den kulturpolitischen Instanzen anzuecken.

Seine Ballette waren – obwohl sie sämtlich aktuelle zeitgenössische Sujets hatten – alles andere als „politisch korrekt“, und so verschwanden sie schon bald nach ihrer Premiere wieder in der Versenkung. Das erging seinem „Goldenen Zeitalter“ (Kaplan, Wainonen, Tschesnakow und Jacobson, 1930) nicht anders als seinem „Bolzen“ (Lopuchow, 1931) und seinem „Der klare Bach“ (Lopuchow, 1935). Auch Belskys „Leningrad Sinfonie“ markierte 1961 keinen wirklichen Durchbruch – obgleich sie sich bis auf den heutigen Tag im russischen Repertoire gehalten hat (Massine hatte sie übrigens schon 1945 in New York choreografiert). Der gelang auch Grigorowitsch nicht mit seinem „Goldenen Zeitalter“ 1982, obgleich dessen Produktion bei den westlichen Auslandstourneen des Bolschoi-Balletts allenthalben gefeiert wurde als eine Abkehr vom heroischen Schwerathleten-Pathos der Moskauer Kompanie.

Peu à peu begannen sich westliche Choreografen des konzertanten Oeuvres Schostakowitsch zu bemächtigen: Cranko 1961 in Stuttgart („Katalyse“, Konzert für Klavier und Trompete), MacMillan 1966 in Berlin („Concerto“, 2. Klavierkonzert), Allen Carter 1967 in Wuppertal („Zehnte Sinfonie“), Panow 1979 in Berlin („Der Idiot“ – verschiedene Konzertmusiken) bis zu Neumeier in Hamburg (dessen Annäherung an Schostakowitsch sich via Mahler vollzog: 2000 „Nijinsky“, 11. Sinfonie – 2002 „Die Möve“, 2. Klavierkonzert, diverse Konzertmusiken und Sätze aus den Ballettsuiten). Inzwischen bemühen sich jüngere russische Choreografien erneut um die Ballette Schostakowitschs, mit teilweise neuen, beziehungsweise dramaturgisch überarbeiteten Libretti: sehr erfolgreich offenbar der 37jährige Alexander Ratmansky, Chef des Bolschoi-Balletts, mit seiner Produktion des „Bolzen“ (Moskau 2005) – dagegen ausgesprochen negativ aufgenommen beim jüngsten Gastspiel des St. Petersburger Mariinsky-Balletts in London wurde Noah Gelbers „Das Goldene Zeitalter“.

Offenbar inspiriert durch mehrere Schallplattenveröffentlichungen der vier Ballettsuiten (zusammengestellt von Kev Atoviam) beginnen sich auch bei uns im Westen jüngere Choreografen in zunehmendem Maße für Schostakowitsch zu interessieren – sehr zu Dank der Tänzer (und des Publikums) – so zum Beispiel Mauro Bigonzetti in „Kazimir‘s Colours“ (Konzert für Klavier und Trompete, Stuttgart 1996), Christian Spuck in „Lulu“ (Auswahl verschiedener Stücke, Stuttgart 2003) und Terence Kohler in „Intermezzo for 20“ (Ballettsuiten 1, 2 und 3, Karlsruhe 2005). So resümieren wir im Jubiläumsjahr 2006, dass Schostakowitsch nicht nur in der Nachfolge Mahlers der größte Sinfoniker des 20. Jahrhunderts war, sondern dass er zusammen mit Strawinsky und Prokofjew als Ballettkomponist eindeutig die Vorherrschaft Russlands auf dem Ballett-Theater des 20. Jahrhunderts beglaubigt hat. Allem Anschein nach vollzieht sich seine Würdigung als Ballettkomponist in einem langsamen aber stetigen Crescendo – und zwar accelerando.

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