Das Wunder von Wolfsburg

Die movimentos Festwochen expandieren um 50%

oe
Wolfsburg, 05/06/2006

Jeder Stadt ihr Wunder! Und so hatten wir das Fußballwunder von Bern und das Ballettwunder von Stuttgart nebst dem Grubenwunder von Lengede. Und während wir alle auf eine Neuauflage des Wunders von Bern anno 1954 im Berlin des Jahres 2006 hoffen (und den Daumen drücken), kann sich Wolfsburg seit neuestem – nicht seines Autowunders rühmen, das liegt schon ein paar Jahrzehnte zurück, wohl aber seines movimentos-Wunders. Das startete 2002 noch bescheiden als Festwochen für den Tanz und hat in diesem Jahr mächtig zugelegt: programmatisch („Heimat – MutterSprache VaterLand“), veranstaltungsmäßig (inklusive Lesungen, Konzerten, Diskussionen etc.), aber auch, was die berüchtigte „Quote“ angeht (50% mehr Besucher). Und so strömten denn auch zum Schlussabend dieser gut fünf Festwochen die Leute und bescherten den Veranstaltern auch in der vierten Vorstellung des Ballet du Grand Théâtre de Genève ein volles Haus.

Vier Vorstellungen mit zwei Stücken, die es wahrlich in sich hatten: von dem Japaner Saburo Teshigawara und dem marokkanischen Belgier Sidi Labi Cherkaoui. Da habe ich doch meine Zweifel, ob die Stuttgarter viermal das Theaterhaus gefüllt hätten, wenn ein solches Programm angekündigt würde. So zahlt sich die kontinuierliche Aufklärungsarbeit des Programmdirektors Bernd Kaufmann und seines Mitarbeiterteams aus. Die Leute kommen eben auch zu Kompanien und Choreografen, von denen sie nie zuvor gehört haben! Teshigawara, der in Frankfurt bei Forsythe gearbeitet und in München eine wenig geglückte Version von „Sacre du printemps“ herausgebracht hat, nennt sein Stück, das er zu einer Auswahl von Ligeti-Kompositionen tanzen lässt, „Vacant“.

In der Tat geht es ihm darum, den toten Raum mit tänzerischer Bewegung zu beleben. Und so lässt er die Tänzer mit einem Ausprobieren ihrer einzelnen Gliedmaßen beginnen: einzeln, jeder für sich (auch im Folgenden berührten die Tänzer kaum je einander). Das sieht aus, wie wenn sie auf unsichtbaren Instrumenten musizieren. Verblüffend ist, dass es sich dabei nicht um die offenkundigen Gliedmaßen wie Hände, Arme und Beine handelt, sondern um einzelne Gelenke, Sehnen, Blicke etcetera, wodurch sich eine sich immer mehr differenzierende Polyzentrik ergibt, die sich hundert-, ja tausendfach vervielfältigt. Bis die ganze Bühne ein einziger oszillierender Raum ist. Exzentrisch – aber man kommt aus dem Staunen nicht heraus!

Cherkaoui, in Wolfsburg freilich nicht ganz unbekannt, da er vor zwei Jahren den Preis als hoffnungsvollster Nachwuchschoreograf bekommen hat, nennt sein Stück für 23 Tänzer „Loin“. Die müssen nicht nur tanzen, sondern auch erzählen, skandieren und singen. Da bleibt manches in der Tat „Fern“, sehr fern sogar. Er arbeitet mit viel arabisch ornamentalen Figurationen und mutet den Darstellern ausgesprochen waghalsige akrobatische Tollkühnheiten zu, offeriert verblüffend komponierte Pas de deux und bündelt die Einzelmotionen immer wieder zu linearen Symmetrien. Und gelangt dabei im Zusammenklang mit einzelnen der Rosenkranz-Mysterien von Ignaz Franz Biber zu wundersam ruhig-meditativen Versenkungen in pure Schönheit.

Man bewundert die Tänzer des Genfer Balletts, wie sie sich auf diese so völlig konträren Arten von Bewegungsmustern einlassen – sie haben ein weitgespanntes Repertoire und sind auch im neoklassischen Idiom absolut kompetent. Und demonstrieren so, aus allen Erdteilen in Genf zusammengekommen – wie ja auch ihre Kollegen in den anderen Kompanien rund um den Erdball –, dass der Tanz ganz sicher mehr als die anderen theatralischen Kunstgattungen ihnen eine „Heimat“ jenseits aller Rassen, Hautfarben, Religionen, Ideologien und Ländergrenzen bietet. Aus der sie niemand vertreiben kann.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge