Aus Zeit und Raum gefallen

Bei seinem Neustart als Ballettchef scheitert Jörg Mannes an Molière

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Hannover, 10/11/2006

Geriete jemand in die erste Produktion des neuen Ballettchefs der Staatsoper Hannover ohne den Titel zu kennen, nie im Leben käme er (oder sie) auf die Idee, es handele sich um ein Ballett über Molière. Dazu muss man schon eingehend den Besetzungszettel und den viel zu langen Einführungsartikel der Dramaturgin im Programmheft gelesen haben, um zu verstehen, was man alles an diesem gut zweistündigen Ballettabend nicht gesehen hat. Das beginnt mit den Paukenschlägen, die die neue Ballettära in Hannover ankündigen und endet im Decrescendo der Beleuchtung am Schluss. So, dass dem Publikum nichts Anderes übrigbleibt als die Vermutung, dass jetzt wohl das Ende erreicht sei, weshalb es pflichtschuldigst zu klatschen beginnt, als hätte es nie einen Stephan Thoss gegeben, der die Hannoveraner fünf Spielzeiten lang – mal mehr, mal weniger erfolgreich – gelehrt hätte, was modernes Ballett sei.

Hannovers neuer Ballettmann heißt Jörg Mannes, ist Österreicher, hat sich als Tänzer bei vielen Kompanien umgesehen und entsprechende Erfahrungen gesammelt, war dann in Bremerhaven Ballettchef, hat auch bei Birgit Keil in Karlsruhe gastiert und sich dabei als ein Choreograf von Geschmack empfohlen und war zuletzt Ballettdirektor in Linz, von wo er mit seinem dortigen Intendanten in die niedersächsische Kapitale übergesiedelt ist.

Die Musikauswahl für seinen Ballettzweiakter beweist seinen exquisiten Anspruch: Rameau, Couperin, Mozart, viel Ravel, dazu Charles Ives und Luciano Berio: man hört‘s mit Vergnügen! Doch was sollen die gleich am Anfang an Laufbändern über die Bühne segelnden Tänzer? Und was die hässlichen fleischfarbenen Ganztrikots mit den Flecken drauf – als handelte es sich um schmuddelige Faune bei ihrer Nachmittagstoilette? Und was, um Himmels Willen, bewog Mannes dazu, die Tänzerinnen im Molière-Zeitalter auf Spitze tanzen zu lassen? Als hätte Molière lediglich „Die lächerlichen Preziösen“ geschrieben, bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren gelegentlichen Reverenzen so gespreizt und gestelzt, werfen sich schmachtende oder abweisende Blicke zu, wenn sie nicht gerade verzweifelt in den Himmel starren, aus dem ihnen aber auch keine Hilfe kommt. Und was sollen die Doppel- und Quadrupelbesetzungen der Rollen, die einen herumraten lassen, wer denn nun wer sei, bis man schließlich kapiert, dass die vier Boys in Rot wohl Molière sein sollen (als Anspielung auf Vivaldi als Prete rosso nun hier sozusagen der Auteur en rouge)?

Dreißig Jahre nach Béjarts geistreichem „Le Molière imaginaire“ kommt uns dieser niedersächsische Molière von der Leine doch sehr provinziell vor. Man respektiert ja Mannes‘ Ehrgeiz, nach den allzu vielen Bach- und Mozart-Balletten der jüngeren Vergangenheit uns mal mit einem anderen Theatermann – und noch dazu mit einem so vitalen und tanzbesessenen – zu konfrontieren. Man erkennt auch durchaus seine handwerkliche Gediegenheit – besonders als Choreograf von Soli und Pas de deux (ein besonders schöner ist ihm für Catherine Franco und Stéphen Delattre gelungen). Und ist dann doch verblüfft über das Differenzierungsunvermögen in der choreografischen Profilierung der unterschiedlichen Charaktere.

So endet das Entrée einer neuen Ära des Staatsopernballetts Hannover mit einer herben Enttäuschung – einer Enttäuschung aber auch über das hannoversche Publikum, das diese Premiere nicht gerade enthusiastisch, aber doch einmütig zustimmend aufgenommen hat – als hätte es nie einen Stephan Thoss in Hannover gegeben (von einer Yvonne Georgi ganz zu schweigen). Mannes‘ Moliere aber erscheint, seiner Zeitgenossenschaft und seines so eminent französischen Lokalkolorits beraubt, als ein vierfaches armes Würstchen, das aus der Zeit und dem Raum gefallen – und prompt beim Ballett gelandet ist.

 

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