Mainz demonstriert die globale Tänzerkoalition

Drei Uraufführungen im Programm XIX

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Mainz, 12/11/2005

Ganz schön happig, was Martin Schläpfer seinem Mainzer Ballettvolk zumutet! Doch in sechs Jahren Schläpfer-Ära und 19 Programmen sind sie ausreichend Pisa-ballettgestählt, und so strömen sie auch zu Beginn der Mainzer Fastnacht in Scharen zu seinem neuesten Drei-Stunden-Marathon mit einer Trias veritabler Uraufführungen – zwei von ihm selbst, „Tänze“ und „Streichquartett“ (Lutoslawski) – dazwischen sein junger französischer Kollege Eric Oberdorff mit „A Momentary Lapse of Being“ (Arvo Pärt). So Schläpfer-musiktrainiert sind sie dort inzwischen, dass sie auch da Musik hören, wo gar keine ist.

In den „Tänzen“ beispielsweise, einer Siebzig-Minuten-Collage aus Ballett (inklusive Spitzenschuh-Zitat), Contemporary, Tanztheater, Textschreien und Zungen-Pirouettieren nebst Polit-Prop, die eine halbe Stunde ohne Musik auskommt, bevor dann ein paar Klavier-Abbreviaturen von Bach, Haydn, Beethoven etc. wie fern aus dem Weltall herbeidriften. Und wie Kreaturen aus dem Kosmos bewegen sie sich, amphibienhaft, auf Vogelstelzen (ohne Grippe), stürzen sich Bungee-like in den virtuellen Rhein, schwimmen im nicht vorhandenen Wasser, präsentieren ihre individuellen solistischen Visitenkarten, verklumpen sich zu laookonhaften Gruppen und marschieren zum Schluss unter flatternder Fahne als ein Häuflein der zwanzig Aufrechten zum Erweiterungskongress der Vereinten Tänzer-Nationen, mit Deutschland als Trauerkloß ob der verweigerten Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und der Türkei als pudelnacktem Aufnahme-Bittsteller. Man versteht nichts, starrt gleichwohl fasziniert auf das abwechslungsreiche Spektakel, das die Tänzer makellos absolvieren – Geschöpfe an den unsichtbaren Fäden ihres Meisterstrippenziehers Martin aus dem Appenzellerland.

Beim Kollegen aus Südfrankreich geht's zunächst weit heftiger zu, toben die Tänzer gegen sich selbst, erwartet man jeden Augenblick ein brennendes Auto auf der Szene, rennen sie gegen sehr reale Wände an, bis sich dann – auch ohne Erscheinen eines Monsieur Sarkozy – die Aufgeregtheit beruhigt und das Paar Yoko Kato und Nick Hobbs Pärt-beschwichtigt einen wunderschön fließenden Pas de deux tanzt, eine Harmonie der Gegensätze. Noch schöner wär's freilich, wenn sich auch Mainz endlich entschlösse, dem Pas de deux sein männliches Geschlecht zurückzuerstatten und ihn so von seiner Androgynität zu befreien.

Und zum Schluss dann also das Lutoslawski-Streichquartett als großes Kompanieballett. Keineswegs, wie im Programmheft behauptet, der erste getanzte Lutoslawski nach Aufhebung der vom Komponisten verordneten Ballett-Ächtung – eins der schönsten Ballette Yvonne Georgis waren ihre „Jeux vénitiens“ zu Musik von Lutoslawski (und wenn mich nicht alles täuscht, existiert auch bereits eine van-Manen-Choreografie zu seiner Musik). Ein echter Schläpfer jedenfalls im besten Mainzer Neoklassizismus – außerordentlich musiksensibel, auf Spitze, gleichwohl vielfach gebrochen, geknickt und zugespitzt, nicht ohne eine Prise Humor – eine Spritzchoreografie, von den Tänzern mit Aplomb wie eine Spezialität aus der Mainzer Ballett-Confiserie serviert. Für den Nicht-Mainzer Ballettfan alles in allem doch eine ziemlich strapaziöse Fastnacht-Sitzung. Wie wär's denn, wenn sich unser Meister Martin zur Abwechslung einmal als Mainzer Geistesbruder seines Kölner Entertainer-Kollegen Jacques outete?

 

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